Bei der Kursk-Offensive der ukrainischen Streitkräfte auf russischem Gebiet (Soldat & Technik berichtete) hat sich die Lage leicht stabilisiert, bleibt aber unübersichtlich. Die Ukraine hält gegenwärtig ein Gebiet von 40 bis 50 Kilometer Breite und bis zu 20 Kilometer Tiefe, das sich vor allem westlich und südlich der Kleinstadt Sudscha erstreckt. Russische Truppen sind zu Gegenangriffen angetreten und haben zumindest zweitweise zwei zuvor als ukrainisch besetzt gemeldete Ortschaften zurückgewonnen. Mittlerweile hat die Ukraine südlich von Sudscha einen neuen Vorstoß in östliche Richtung unternommen und in der Nacht zum Montag noch weiter südlich einen Angriff von eigenem Gebiet auf den Grenzübergang Kolotilowka zur russischen Oblast Belgorod gestartet.
Russland hat in der Oblast Kursk eine Anti-Terror-Operation erklärt, wonach die Gesamtverantwortung nicht beim Militär, sondern dem Inlandsgeheimdienst FSB liegt. Rund 80.000 Einwohner wurden bislang aus der grenznahen Gegend evakuiert. Evakuierungen in der Oblast Belgorod, die bereits häufiger Ziel ukrainischer Luft- und Artillerieangriffe sowie von Unternehmen „russischer Exil-Freiwilligenverbände“ gegen Grenzdörfer war, kommen nun hinzu. Russischen Berichten zufolge wurden Einheiten verschiedener Organisationen aus Gebieten bis hin zu Saporischschja im Süden der Ukraine zur Abwehr der Offensive in den Abschnitt Kursk verlegt, was zu erheblichen Koordinierungsproblemen führt.
Das Kampfgeschehen konzentriert sich gegenwärtig offenbar auf ein Gebiet nördlich von Sudscha, das entgegen früherer Meldungen nicht von der Ukraine besetzt wurde, sondern selbst im umkämpften Gebiet liegt. Aufgrund der mobilen ukrainischen Operationsführung mit kleinen motorisierten Einheiten ist die Kontrolle über mehrere Ortschaften nördlich der Stadt derzeit ebenfalls unklar. Plötzlich in weiter entfernt liegenden Dörfern auftauchende Gruppen auf drei bis sechs leichten Fahrzeugen und Unklarheit über die Entfernung von Gefechtslärm tragen zur Verunsicherung der russischen Bevölkerung bei.
Inzwischen hat die ukrainische Regierung ihr anfängliches Schweigen gebrochen und erklärt, dass die Offensive die fortbestehende Angriffsfähigkeit der eigenen Streitkräfte zeigen und den Krieg auf das Territorium des Aggressors tragen solle. Ziel dürfte weiterhin sein, Russland ebenso zur Schwächung anderer Frontabschnitte zu zwingen wie dies die russische Offensive Richtung Charkiw im Mai für die Ukraine bewirkte, sowie die Glaubwürdigkeit Putins als Kriegsherr und die öffentliche Unterstützung für die Fortsetzung des Krieges in Russland zu unterminieren. Zudem eröffnet die Besetzung russischen Territorium die Möglichkeit für einen Gebietsaustausch in eventuellen Friedensverhandlungen.
Stefan Axel Boes