StartTaktik & AusbildungErklärstück: Notwendige Ausbildungszeiten für komplexe Waffensysteme

Erklärstück: Notwendige Ausbildungszeiten für komplexe Waffensysteme

Waldemar Geiger

Panzer, Schützenpanzer und Panzerhaubitzen gelten als komplexe Waffensysteme. Ein erfolgreicher Einsatz dieser Systeme erfordert daher eine adäquate Ausbildung. Wie intensiv und lange diese Ausbildung – also Wochen, Monate oder Jahre – dauern muss, wird derzeit öffentlich kontrovers diskutiert. Einige Stimmen behaupten, wenige Wochen sind ausreichend. Wiederum andere konstatieren, dass eine effektive Ausbildung Monate, teilweise Jahre in Anspruch nimmt. Beide Seiten haben gleichzeitig recht und unrecht, denn sie sprechen zwar beide über die gleiche Ausbildung, aber über unterschiedliche Ausbildungsziele.

Der Krieg in der Ukraine führt auf beiden Seiten zu erheblichen Personal- und Materialverlusten. Nach mittlerweile zwei Monaten hochintensiver Gefechte können die Materialausfälle auf der ukrainischen Seite fast nur noch durch Lieferungen aus dem Ausland ausgeglichen werden. Das Gros dieser Militärhilfen gewähren NATO-Staaten, die das Ziel verfolgen, Waffen an die Ukraine zu liefern, ohne selbst in aktive Kampfhandlungen einzugreifen.

Mit der Fortdauer des Krieges hat sich die Art der Waffenlieferungen verändert. Zu Beginn wurden vergleichsweise einfache, von einzelnen Soldaten einsetzbare Waffen geliefert. Wenige Wochen später waren es bereits komplexe Waffensysteme. In einem ersten Schritt werden den ukrainischen Streitkräften derzeit Schützenpanzer, Haubitzen, Kampfpanzer und Luftverteidigungssysteme sowjetischer Bauart zur Verfügung gestellt. Diese sind dort bekannt und können daher unmittelbar eingesetzt werden, da die Ukrainer selbst seit Jahren die gleichen, oder zumindest artverwandte Systeme nutzen. Doch auch die Vorräte der osteuropäischen NATO-Staaten an diesen Waffentypen sind nicht unerschöpflich.

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In der Annahme, dass der Krieg noch länger dauern könnte, müssten konsequenterweise auch Schützenpanzer, Artilleriesysteme & Co westlicher Bauart zur Verfügung gestellt werden, wenn die Unterstützungsleistung aufrechterhalten werden soll. Genau an diesen für die Ukraine unbekannten Systemen müsste also eine Schulung der Soldaten erfolgen. Diese könnte in wenigen Wochen abgeschlossen werden oder in mehreren Monaten, je nachdem welches Ausbildungsziel verfolgt wird.

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Um diese unterschiedliche Zeitdauer zu begreifen, muss man die militärischen Fachtermini „Einsatzwert“, „Gefecht der verbundenen Waffen“ bzw. „Operationen verbundener Kräfte“ zwingend kennen.

Der Begriff des Einsatzwerts beschreibt die Effektivität einer militärischen Formation oder eines expliziten Waffensystems unter spezifischen Bedingungen. Eine breite Palette an Faktoren wie beispielsweise technische Eigenschaften des Waffensystems, der Ausbildungsstand der Soldaten, der Grad der Vertrautheit der Truppe (Nutzer und Führung) mit den spezifischen Eigenschaften des Systems oder die Einsatzdoktrin der Streitkräfte bestimmen den Einsatzwert. Bereits einzelne Faktoren können dazu führen, dass der Einsatzwert hoch oder niedrig ist.

Im Gegensatz zum Kartenspiel Panzerquartett werden Waffensysteme in den Streitkräften nicht als singuläre technische Objekte, sondern als elementarer Teil eines Ganzen betrachtet, das im Rahmen des Gefechts verbundener Waffen oder Operationen verbundener Kräfte eingesetzt wird. Militärs bedienen sich daher oftmals des Vergleichs mit einem Symphonieorchester, um dieses Prinzip zu erklären. Damit ein Orchester Spitzenleistungen erbringen kann, müssen nicht nur alle einzelnen Musiker Spitzenleistungen erbringen, sondern auch die Gesamtkomposition der einzelnen Musiker muss passgenau sein in Bezug auf den Raumklang, das Zusammenspiel und die gewählten Musikstücke. Die Musiker müssen Meister ihres Fachs sein und über Spitzeninstrumente verfügen.

Schlussendlich muss auch das gespielte Musikstück exzellent sein und den Geschmack des Publikums treffen. Im Krieg sind die Streitkräfte das Orchester, die Soldaten die Musikanten, der Saal entspricht dem Gefechtsfeld und die Waffensysteme sind mit den Instrumenten zu vergleichen. Wenn alles aufeinander abgestimmt ist und das richtige Musikstück – die richtige Taktik – gewählt wurde, wird das Publikum – der Feind – sprichwörtlich „umgehauen“.

Lange Ausbildungsdauer

Genau diese Prinzipien führen diejenigen ins Feld, die von langen Ausbildungszeiten sprechen. Argumentiert wird, dass die zukünftigen Besatzungen die Systeme nicht einfach nur nutzen können müssen, sondern die spezifischen Einsatzsysteme auch auf eine „richtige“ Art und Weise nutzen müssen, da sonst die Leistungsfähigkeit der Waffen nicht ausgeschöpft werden kann.

Die einfache Einweisung in die korrekte Bedienung des Systems reicht demnach nicht aus. Vielmehr muss die Einsatzdoktrin, für die das System entwickelt wurde, vermittelt werden, weil es sonst unter Umständen seine Funktion nicht erfüllen kann. Schließlich nützt auch das beste Werkzeug in der Hand eines Meisterhandwerkers wenig, wenn der Architekt mangelhafte Baupläne anfertigt nach denen der Handwerker arbeiten soll.

Um es an einem konkreten Beispiel festzumachen: Sowohl ein deutscher Leopard, als auch ein russischer T-72 sind Kampfpanzer, bzw. ein deutscher Marder und ein russischer BMP sind Schützenpanzer. Auch wenn die westliche und die sowjetische Einsatzdoktrin es vorsieht, dass Kampf- und Schützenpanzer im Verbund eingesetzt werden, um die gegenseitigen Stärken der Systeme zu nutzen und die Schwächen auszugleichen zu können, haben die deutschen Systeme andere Vor- und Nachteile als die sowjetischen Modelle. Nimmt man eines der Elemente heraus, sinkt der Einsatzwert des anderen Elements unmittelbar mit und die Gefahr steigt, dass man zur leichten Beute wird.

Bei der Entwicklung des Leopard und des Marder beispielsweise, war das Prinzip des Gefechtes der verbundenen Waffen designbestimmend. Werden diese durch geschulte Besatzungen gemäß der deutschen Einsatzdoktrin genutzt, für die sie gedacht wurden, entwickeln sie den höchsten Einsatzwert. Dieser kann dann schlussendlich in Kampferfolge umgemünzt werden. Tauscht man eines der Einzelelemente beliebig aus, sinkt der Einsatzwert automatisch. Der Faktor, um den der Einsatzwert sinkt, lässt sich mittels Ausbildung steuern, weil die Besatzungen, die die Systeme bedienen und die militärischen Führer, die die Verbände führen, erst durch die gemeinsame Ausbildung die spezifischen Stärken und Schwächen der neuen Systeme kennenlernen. Durch diese gemeinsame Erfahrung kann das System dann optimal in die Gefechtsführung der ukrainischen Streitkräfte eingegliedert werden.

Würde also beispielsweise Deutschland der Ukraine Schützenpanzer Marder geben, würden diese im Zweifelsfall im Verbund mit ukrainischen Kampfpanzern sowjetischer Bauart gegen aufeinander abgestimmte russische Truppenverbände kämpfen müssen. Die Erfolgschance wäre umso höher, je besser dieses „Zusammenspiel“ funktionieren würde. Damit dies eintrifft müssten also nicht nur einzelne ukrainische Soldaten in die Bedienung der Marder eingewiesen werden, sondern auch das gemeinsame Gefecht auf Verbandsebene geübt werden. Idealerweis würde diese Ausbildung und Übung im Verbund mit den ukrainischen Panzerkräften erfolgen, was logischerweise utopisch ist und daher von niemandem gefordert wird. Schließlich sind alle diese Kräfte an der Front gebunden und werden dort auch gebraucht.

Die Verfechter einer langen Ausbildungsdauer begründen ihren Ansatz damit, dass die Durchsetzungsfähigkeit der ukrainischen Soldaten mit den westlichen Systemen mit der Ausbildungsdauer und -intensität zunimmt. Man propagiert also nicht nur die reine Bedienerausbildung, sondern auch eine Ausbildung des taktischen Einsatzes der Systeme, um die maximale Leistungsfähigkeit der Systeme nutzbar machen zu können.

Kurze Ausbildungsdauer

Die Logik der Vertreter einer Ausbildungsdauer von wenigen Wochen ist eine andere. Diese basiert auf der Annahme, dass eine reine Bedienereinweisung in das jeweilige System vollkommen ausreicht. Die Grundannahme dabei ist, dass die zu schulenden ukrainischen Soldaten bereits fertig ausgebildete Nutzer vergleichbarer Systeme sowjetischer Bauart sind. Man würde in der Ausbildung somit nicht bei Null anfangen, sondern lediglich eine Einweisung in die spezifischen Besonderheiten des Systems durchführen müssen. Das angestrebte Ausbildungsniveau ist somit Systembediener / Einzelschütze und nicht Ausbildung im Zug-, Kompanie- oder Bataillonsrahmen.

Schnelligkeit vor Gründlichkeit ist die Devise, da die Ukraine die Systeme eher gestern als heute braucht. Konsequentermaßen würden die ukrainischen Streitkräfte dann im laufenden Gefecht selbst herausfinden müssen, wie die jeweiligen Systeme am zweckmäßigsten eingesetzt werden, um einen möglichst hohen Einsatzwert erzielen zu können.

Resümee

Beide Denk- und Argumentationsmuster haben ihre Daseinsberechtigung und verdeutlichen das aktuelle Dilemma. Ist das Ausbildungsniveau zu gering, läuft die Ukraine in die Gefahr, die frisch gelieferten Systeme sofort wieder zu verlieren. Diese könnten sich dann nicht auf dem Gefechtsfeld auswirken und somit nicht zum angestrebten Kriegserfolg beitragen. Dauert die Ausbildung dagegen zu lange, kommen die Systeme unter Umständen zu spät, um überhaupt noch das Kriegsgeschähen zu beeinflussen. Die Herausforderung liegt somit in der Definition der minimal notwendigen Ausbildungshöhe, damit sich die Systeme sich aus ukrainischer Sicht positiv auf den Kriegsverlauf auswirken können.

Egal welches Denkmuster man präferiert, ein Aspekt ist jetzt schon offenkundig: Wenn man eine generelle Bereitschaft und Fähigkeit für die Lieferung eines spezifischen Waffensystems hat, sollte man jetzt sofort mit der Ausbildung beginnen. Sonst sind unter Umständen auch wenige Woche zu lang.

Waldemar Geiger