Ob die aktuelle Zusammenziehung der russischen Truppen auf der Krim, an der westlichen Grenze zur Ukraine und in Belarus eine reine Drohgebärde oder eine Vorbereitung für einen Einmarsch in die Ukraine darstellt, kann derzeit nur Moskau mit absoluter Gewissheit beantworten. Es ist auf jeden Fall nicht das erste Mal, dass in jüngster Zeit große russische Truppenkontingente an der russischen Westgrenze konzentriert werden. Bisher wurden diese im Anschluss aber immer wieder reduziert. Gegenwärtig mehren sich jedoch die Zeichen, dass Moskau dabei ist, eine umfassende Kriegsbereitschaft herzustellen, wie sich aus dem Blick auf die Truppenaufstellung rund um die Ukraine ergibt.
Als im Frühjahr 2021 nach längerer Zeit erstmals wieder größere russische Truppenverbände an der ukrainischen Grenze zusammengezogen wurden, hatten viele Beobachter die Befürchtung, dass diese Einheiten des südlichen und westlichen Militärdistrikts entgegen der russischen Beteuerung nicht allein zum Abhalten von größeren Militärmanövern mobilisiert wurden. Erfahrene Militärexperten verwiesen auf die Tatsache, dass die russischen Kontingente nicht nur über Kampftruppen, sondern im Gegensatz zu den Vorjahren auch über ausreichend Unterstützungstruppen für eine Eskalation der Lage verfügten. Es blieb jedoch letztendlich bei den Manövern.
Auch im Spätherbst 2021, als die zweite große Zusammenziehung russischer Truppen in der Region binnen eines Jahres erfolgte, wurde schnell auf die Möglichkeit einer Eskalation verwiesen. Die Lage blieb dann zwar erneut angespannt, aber die Schwelle zu einem offen ausgetragenen Konflikt wurde nicht überschritten.
Militärbeobachter stellten noch während der Mobilisationsphasen fest, dass zwar starke Kampf- und Unterstützungstruppen an eine potenzielle Front verlegt wurden, aber ein Aufwuchs der frontnahen Logistik – wie beispielsweise die Verlegung von größeren Mengen von Treibstoff und Sanitätsmaterials und -Personals – ausblieb. Deshalb kamen sie zum Schluss, dass es sich bei den Manövern schlussendlich um ein Säbelrasseln handeln müsse.
Heute sieht die Lage dagegen noch bedrohlicher aus: Im Gegensatz zu den vorherigen Truppenverlegungen haben die russischen Streitkräfte eine für eine Invasion der Ukraine deutlich günstigere räumliche Ausgangsstellung eingenommen. Sie befinden sich nicht nur an der russischen Grenze zur Ukraine, sondern auch in Belarus und auf der Krim. Selbst in Transnistrien existiert ein russische Militärpräsenz. Diese Aufstellung zwingt die deutlich kleineren ukrainischen Streitkräfte, ihre Verteidigungslinien in der Fläche auszuweiten. Aus ukrainischer Sicht hat sich die nun zu verteidigende Grenze praktisch verdoppelt.
Ein weiterer Unterschied zum Vorjahr ist in den zusätzlichen Waffensystemen erkennbar, die dieses Mal in der Region zusammengezogen werden, wie die in den sozialen Medien veröffentlichten Videomittschnitte der russischen Bevölkerung offenbaren. Diese im englischen Sprachgebrauch als OSINT (Open Source Intelligence) bezeichneten Quellen ermöglichen es der Weltöffentlichkeit, den Aufmarsch fast live zu verfolgen. Auf Twitter, Telegram und Co. werden im Minutentakt Videos von russischen Eisenbahnwaggons mit Militärtechnik veröffentlicht, die nach Westen rollen.
Für das geschulte Auge lassen sich beim aktuellen Aufmarsch mehrere Abweichungen im Vergleich zum Säbelrasseln des vergangenen Jahres feststellen. Dazu zählen:
- Verlegung von strategischen Raketentruppen
- Verlegung einer größeren Anzahl an Luftkriegsmitteln (Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge)
- Quantitativ deutlich stärkere Verlegung von Flugabwehrsystemen kurzer- und langer Reichweite mit höherer Leistungsfähigkeit
- Verlegung von schweren 240-mm-Mörsern des Typs 2S4 Tyalpan und schweren 203-mm-Artilleriehaubitzen des Typs 2S7M Malka (im Titelbild während einer vorherigen Übung gezeigt)
Für Kenner der russischen Einsatzdoktrin, wonach Angriffe von Bodentruppen durch einen massiven Einsatz von Feuerunterstützungskräften vorbereitet werden, ein deutlicher Hinweis darauf, dass diesmal alle für einen potenziellen Krieg notwendigen Fähigkeiten unterschiedlicher Ebenen (Brigade, Division, Korps und Armee) im Einsatzraum konzentriert werden. Auch im Bereich der Logistik werden im Unterschied zum Vorjahr offenbar umfassendere Vorkehrungen getroffen.
Außerdem gibt es Hinweise auf die Mobilisierung von Ordnungstruppen des russischen Innenministeriums. Diese sind typischerweise notwendig, um den rückwertigen Raum hinter der Front abzusichern.
Darüber hinaus hat Moskau – angeblich wegen der Corona-Situation – das Wiener Dokument für die anstehende Großübung russischer und belarussischer Streitkräfte ausgesetzt. In dem internationalen Abkommen ist die Teilnahme von Militärbeobachtern fremder Nationen an Militärübungen festgelegt, um die Transparenz zu erhöhen. Beobachtern aus westlichen Staaten bleibt mit dem Aussetzen jedoch der Zugang verwehrt.
Auch wenn sich die russischen Absichten aus der Ferne nicht zweifelsfrei ergründen lassen, wird aus der Analyse des Aufmarschs deutlich, dass er von der NATO mit Recht sehr ernst genommen wird. Denn sowohl hinsichtlich der Qualität als auch der Quantität geht er deutlich über die Machtdemonstrationen der Vorjahre hinaus.