Der Artikel beschäftigt sich mit den Aktivitäten Russlands an seiner europäischen Westgrenze nach der illegalen Annektierung der Krim und den damit in Verbindung stehenden Aktionen im Donbass. Es werden Parallelen zwischen dem deutschen Schlieffen-Plan, welcher zwischen 1905 und 1914 erdacht und vervollständigt wurde, und dem 1940 erfolgreich ausgeführten Sichelschnitt-Plan des Dritten Reiches einerseits und dem strategischen Ansatz Russlands gegenüber dem Westen von 2014 bis 2022 aufgezeigt. Der Text liefert Hinweise für eine konzeptionelle Weiterentwicklung des zugrundeliegenden Prinzips.
Der Schlieffen-Plan aus dem Jahre 1905 (ausgeführt 1914) basierte auf Täuschung des Gegners Frankreich im Süden, Berücksichtigung des durchschnittenen Geländes im Zentrum (belgische Ardennen) kombiniert mit dem Moment der Überraschung und Geschwindigkeit überlegener Kräfte im Norden. Obwohl das ursprüngliche Kräfteverhältnis im Norden von 7:1 (im Vergleich zum südlichen Flügel) später auf nur 3:1 abgeschwächt wurde, lieferte der Schlieffen-Plan auch lange nach dem I. Weltkrieg eine angemessene Grundlage für einen Bewegungskrieg im Westen. Aufgrund der Erfahrungen aus dem I. Weltkrieg erwarteten die Alliierten Frankreich, Belgien, Niederlande und Großbritannien einen zwar angepassten, aber dennoch auf demselben Prinzip beruhenden Angriff des Dritten Reichs am Vorabend des II. Weltkrieges und bereiteten die Verteidigung entlang der befestigten Maginot-Linie im Süden und aus weiteren Verteidigungsstellungen im Norden vor. Das schwierige Gelände der belgischen Ardennen im Zentrum wurde als natürliche Barriere bewertet und folglich mit schwächeren Kräften versehen.
Die alliierte Verteidigungsplanung sah, in Kenntnis des ursprünglichen Schlieffen-Plans, konsequenterweise die Stellungstruppe der Maginot-Linie im Süden und starke Kräfte zur Verteidigung im Norden vor. Das Überraschungsmoment ausnutzend, griff die Wehrmacht jedoch unerwartet im Zentrum an, erzwang ein schnelles Durchstoßen der Ardennen und umging damit die Maginot-Linie im Norden. Im entscheidenden Moment, nach dem handstreichartigen Nehmen der Maas-Übergänge bei Sedan, fügten sich die aus dem Überraschungsmoment resultierende Verwirrung der Alliierten, die entschlossene, teils kühne Fortsetzung des Angriffs durch die militärischen Führer vor Ort und die unbewegliche Operationsführung der Alliierten zu einem operativen Erfolg der Wehrmacht zusammen. Dieser führte zum „Sichelschnitt“ von den belgischen Ardennen zur Kanalküste und zur Einschließung der Hauptstreitmacht der Alliierten sowie der Evakuierung des britischen Expeditionskorps über den Ärmelkanal. Jahrelange Besetzung und Kriegsverbrechen folgten diesem militärischen Erfolg, welcher aus dem Abweichen vom Prinzip des starken rechten Flügels resultierte und erst im Nachhinein unter dem Namen „Sichelschnitt-Plan“ bekannt wurde.
Ursprung des Sichelschnitts
Im Jahr 1905 schrieb der deutsche Generalsstabschef, Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, seine Gedanken zu einem möglichen Westfeldzug gegen Frankreich nieder und skizzierte eine nördliche und nordwestliche Umfassung der gegnerischen Armeen mit dem Ziel, Paris einzukreisen. Damit war der Schlieffen-Plan geboren, der vor allem auf der Idee eines deutlich überlegenen rechten Flügels (Nord) basiert, während die Masse der gegnerischen Kräfte vom Zentrum und linken Flügel (Süd) gebunden werden sollten. Der daraus entstandene Wahlspruch „Macht mir den rechten Flügel stark“ führte zu einem geplanten Kräfteverhältnis von 7:1. In der Umsetzung wurde dieses Verhältnis durch seinen Nachfolger, Generalfeldmarschall von Moltke dem Jüngeren auf 3:1 aufgeweicht, was schließlich zu einem Verlust militärischer Initiative und zu vier Jahren schrecklichem, brutalem und menschenverachtenden Stellungskrieg an der Westfront des I. Weltkrieges führte. Gleichzeitig bildete er die Grundlage für die Täuschungsmanöver des Sichelschnittplans von 1940.
Im Ergebnis kann man folgendes feststellen: Ein operativ-taktischer Sichelschnitt á la 1940 kombiniert den Einsatz konzentrierter militärischer Kräfte auf operativer Ebene mit dem Prinzip der Täuschung, Überraschung sowie der Umsetzung der als am unwahrscheinlichsten angenommenen Möglichkeit des Handelns.
Während das Erzeugen eines entscheidenden Kräfteverhältnisses und die Entscheidung für die vom Gegner als unwahrscheinlich angenommene Möglichkeit des eigenen Handelns zum militärischen Teil eines Sichelschnittes gehören, beruhen die Aspekte Täuschung und Überraschung zusätzlich auf einer ganzen Reihe von nicht- und/oder paramilitärischen Aktivitäten. Dazu gehören insbesondere diejenigen auf politischer Ebene. Die Geschichte der Kriegsführung kennt hierfür zahlreiche Beispiele, in denen die Anwendung von zivilen und militärischen (hybriden) Täuschmaßnahmen, die auf politischer Ebene unterstützt worden sind, einen entscheidenden Vorteil brachte. Ein wesentlicher Aspekt im Zusammenhang mit nicht- oder paramilitärischen Aktivitäten, die die Souveränität eines Staates angreifen, ist die Schwierigkeit der Attribuierung und Ermittlung des Ursprungs. Während militärische Aktivitäten aufgrund ihres staatlichen Charakters häufig leicht einzuordnen sind, ist dies bei nicht- oder paramilitärischen Aktivitäten nicht oder nur eingeschränkt möglich. Und obwohl diese Erkenntnis nicht neu ist, hat sich in jüngster Vergangenheit u.a. auch durch die Nutzung neuer technologischer Möglichkeiten im Cyber- und Informationsraum ein (neuer) Begriff ausgeprägt: die hybride Kriegsführung.
Rückblickend auf den Fall der illegalen Annektierung der Halbinsel Krim 2014 durch Russland kann man die Anwendung des hybriden Prinzips in einer abgeschwächten Form dadurch erkennen, dass die russischen Besatzungstruppen und deren Verbündete ohne Hoheitsabzeichen operierten, um die Zuordnung zu erschweren. Hybride Kriegsführung schaffte in diesem Fall die Voraussetzungen für konventionelle Folgeoperationen. Dem russischen Angriffskrieg in 2022 gingen weniger offensichtliche hybride Aktivitäten als 2014 voraus und hatten, auch unter Einbeziehung der Vorbereitungsphase im Vorjahr, größtenteils konventionellen Charakter. Wenn man allerdings die Angriffe auf die europäische Sicherheitsarchitektur auf nationaler und supranationaler Ebene in die Überlegung einbezieht, kann man zu der Auffassung gelangen, dass der Krieg gegen die Ukraine lediglich eine konventionelle Fortsetzung des unkonventionellen hybriden Schritts Russlands aus dem Jahre 2014 im Rahmen einer geplanten Kampagne ist.
Eine russische Kampagne gegen die europäische Sicherheitsarchitektur – was bedeutet das?
2001 hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine Rede im deutschen Bundestag, in der er die „Hand des Friedens“ in Richtung des Westens ausstreckte. 2007 stellte er auf der Münchener Sicherheitskonferenz den Beginn einer neuen Ära der Konfrontation und aggressiveren Außenpolitik fest. 2008 führte Russland Krieg gegen Georgien. Dies zeigt eine Zeitspanne von sechs bis sieben Jahren auf, in der sich die politische Position des russischen Präsidenten ins Gegenteil verkehrt hat. Ein Zusammenhang kann angenommen werden. Sechs Jahre später, im Jahr 2014, wurde die Halbinsel Krim annektiert. Weitere acht Jahre später greift Russland die Ukraine konventionell an. Eine logische Schlussfolgerung, basierend auf der Abfolge der skizzierten Ereignisse, ist, dass Präsident Putin dazu tendiert, einer dynamischen Kampagne zu folgen, die geostrategische Meilensteine im Abstand von ca. sechs bis acht Jahren vorsieht. Demnach ist der Angriff auf die Ukraine 2022 nur ein logischer Schritt nach der Annektierung der Krim 2014 und in diesem Zusammenhang zu bewerten. Eine solche Betrachtung führt uns auch zu der Frage, was der nächste Schritt sein wird, der vermutlich im Zeitraum 2028-30 zu erwarten wäre.
Aber folgten diese Schritte auch einem Sichelschnitt-Ansatz und bildete sich dadurch eine Art hybrider Sichelschnitt?
Die NATO fokussierte sich seit dem Gipfel von Wales 2014 und Warschau 2016 auf den steten Ausbau der Verteidigungskräfte als Rückversicherung für die Staaten der ostwärtigen Bündnisgrenze, insbesondere für die baltischen Staaten und Polen. Dies bezieht die Überwachung der strategisch wichtigen Räume der Ostsee sowie des Hohen Nordens mit der Linie Grönland-Island-Großbritannien ein. Man könnte auch sagen, dass sich die NATO auf den potentiellen rechten Flügel Russlands konzentrierte. Im Rahmen des internationalen Krisenmanagements und der Konfliktverhütung engagierten sich westliche Demokratien vor allem im Krisenbogen von Westafrika bis Afghanistan, was man als den potentiellen linken Flügel russischer Einflussnahme gegenüber dem Westen bezeichnen kann. Legt man dieses Verständnis zugrunde kann man die Schwarzmeerregion, insbesondere den Raum der Westukraine (Oblast Subkarpathen) mit der Grenze zu Südpolen, Ungarn und der Slowakei, als Zentrum des strategischen Blickwinkels Russlands Richtung Westen bezeichnen. Ergo: Die russischen Aktivitäten in Bezug auf die Ukraine erfüllten zumindest teilweise und zumindest im Zeitraum zwischen 2014 und 2022 den oben skizzierten Grundsätzen eines hybriden Sichelschnitts durch:
- die Ablenkung der westlichen Aufmerksamkeit auf den nördlichen und südlichen Flügel (Täuschung),
- den Einsatz eines massiven Aufgebots russischer Land- und Luftstreitkräfte zum konventionellen Angriff (entscheidenden Konzentration von militärischen Kräften),
- die Überraschung insbesondere vieler politischer Entscheidungsträger trotz ausreichender Warnsignale,
- der Rückkehr zum konventionellen Krieg auf dem europäischen Kontinent, was bis dato als eher unwahrscheinlich galt (Umsetzung der als am unwahrscheinlichsten angenommenen Möglichkeit des Handelns).
Daraus ließe sich ableiten, dass die russischen Aktivitäten der letzten Jahrzehnte in dieser Region einem hybriden Sichelschnitt-Ansatz folgten und dies vermutlich noch tun.
Während westliche Demokratien nicht in letzter Konsequenz auf die illegale Annektierung der Krim reagierten, fiel deren Reaktion auf den tatsächlichen konventionellen Angriff auf die Ukraine umso eindeutiger und geschlossener aus. Damit hat Präsident Putin quasi das Gegenteil von dem erreicht, was er ursprünglich erreichen wollte: Die Gemeinschaft der westlichen Demokratien steht geeinter zusammen denn je, die NATO steigt in ihrer Relevanz und wird durch den Beitritt Finnlands und Schwedens noch gestärkt und EU kann ihr wirtschaftliches Gewicht politisch ausspielen. Nachdem Russland in der Ukraine nun offensichtlich die konventionelle Komponente eines hybriden Sichelschnitts anwendet, mag man sich fragen, welche hybriden Schritte folgen werden. Was werden zukünftige hybride Maßnahmen Russlands sein, um die Elemente der Täuschung und Überraschung erneut zu nutzen? Was könnte die nächste, für die westliche Welt unwahrscheinlichste Möglichkeit des Handelns sein? Gegen wen könnte sie sich richten? Wie könnte man sich darauf vorbereiten? Und wird es in 2030, 2028 oder sogar früher stattfinden?
Autoren: Oberstleutnant i.G. Andreas Nichting und Oberstleutnant i.G. Kai Schlegel sind deutsche Generalstabsoffiziere, die bereits verschiedene Führungspositionen in der leichten und luftbeweglichen Infanterie innehatten. Als Operationsplaner und Konzeptionäre arbeiteten sie unter anderem gemeinsam in der Division Schnelle Kräfte und vertieften dort ihre Leidenschaft für Militärgeschichte mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen in regelmäßigen Gesprächen und Analysen. Triebfeder ihres Handelns ist die Erkenntnis, dass es der deutschen Gesellschaft an einer operativen und strategischen Kultur fehlt, die Streitkräfte als Machtmittel in den Dienst eines übergeordneten gesamtgesellschaftlich zu erreichenden Ziels stellt.
Derzeit ist Kai Schlegel im EU-Militärstab in Brüssel (Belgien) primär für die EU-Kräfteplanung zuständig. Andreas Nichting ist als Referent im Verteidigungsministerium in Berlin vor allem für EU-Verteidigungsinitiativen eingesetzt. Beide verfügen über langjährige Erfahrungen in den Streitkräften und verfügen über ein Diplom bzw. Magister der Universität der Bundeswehr und Einsatzerfahrung in Afghanistan, Irak und Kosovo. Der Beitrag gibt ihre persönliche Meinung wieder.