Am Morgen des 6. August begannen die Streitkräfte der Ukraine überraschend eine Offensive gegen die russische Oblast Kursk. Obwohl dies nicht die erste ukrainische Bodenoperation auf Russlands eigenem Territorium ist, sind Umfang und Qualität bislang beispiellos. Zuvor handelte es sich bei solchen Unternehmungen meist um schnelle Überfälle auf grenznahe Ortschaften, die offiziell von russischen Exil-Freiwilligenverbänden durchgeführt wurden und vor allem Propagandazwecken dienten. An der jetzigen Offensive sind dagegen Berichten zufolge vier reguläre ukrainische Brigaden und Teile von vier weiteren beteiligt, die auch mit westlichen Waffensystemen ausgerüstet sind.
Demzufolge handelt es sich in erster Linie um die 22. und 61. Mechanisierte Brigade sowie die 80. und 82. Luftsturmbrigade. Entgegen der Traditionsnamen sind auch die beiden letzteren mechanisierte Verbände. So wurde die 82. Luftsturmbrigade im vergangenen Jahr mit britischen Challenger Kampfpanzern, deutschen Marder Schützenpanzern und amerikanischen Stryker Mannschaftstransportwagen ausgestattet und während der ukrainischen Sommeroffensive bei Robotyne im Süden des Landes für einen letztlich nicht erfolgreichen Durchbruch in Reserve gehalten. Es handelt sich hier also um kampferfahrene Verbände.
Nach dem Überschreiten der russischen Grenze zunächst in gemeldeter Bataillonsstärke rückten diese auf die 13 Kilometer entfernte Stadt Sudscha vor, die am Mittag des 8. August als eingenommen galt. Widerstand erfolgte vor allem durch russische Grenztruppen, einen Reserveverband der regulären Streitkräfte sowie die Achmat-Truppen des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, die mittlerweile der russischen Nationalgarde angehören. Ein starkes ukrainisches Aufklärungsunternehmen entlang der Straße in Richtung des rund 55 Kilometer nordwestlich gelegenen Rylsk zog sich offenbar nach Verlusten zurück.
Stattdessen stießen die Ukrainer im Lauf des 8. sowohl in nördlicher Richtung auf das 50 Kilometer entfernte Lgow als auch nach Nordosten Richtung Kursk in knapp 90 Kilometer Entfernung vor. Am Nachmittag des Tages wurden Gefechte auf etwa der Hälfte des Weges nach Lgow gemeldet, rund 30 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Anders als während der ukrainischen Sommeroffensive letzten Jahres gegen tiefgestaffelte vorbereitete Verteidigungslinien mit ausgedehnten Minenfeldern, überwacht von weitreichenden russischen Waffen und Kampfhubschraubern, scheinen die Angreifer hier zu einer mobilen Operationsführung unter Umgehung feindlicher Schwerpunkte in der Lage zu sein.
Das Ziel der Offensive bleibt derweil unklar. Die Regierung in Kiew macht hierzu keine Angaben. Der Versuch, mit den eingesetzten Truppen die Großstadt Kursk einzunehmen, scheint ebenso aussichtslos wie entsprechende Vermutungen bezüglich Charkiws bei der russischen grenzüberschreitenden Offensive in dessen Richtung weiter südlich im Frühjahr. Spekuliert wird über das Atomkraftwerk Kursk, das tatsächlich näher bei Lgow am Ufer des Flusses Seim liegt. Möglich ist auch der Versuch, sich ein territoriales Faustpfand für einen Tausch besetzter Gebiete bei möglichen Friedensverhandlungen zu verschaffen.
Überraschend ist vor allem, dass die Ukraine kampfkräftige Truppen in signifikanter Stärke für solch ein gewagtes Unternehmen einsetzt, während sie zwar die russische Offensive bei Charkiw gestoppt hat, jedoch im Donbas langsame aber stetige Gebietsverluste erleidet. Allerdings zeigt der Vorstoß auch, dass beide Seiten im Verhältnis zur Größe des Kriegsgebiets mit weit überdehnten Kräften operieren und gegenüber gegnerischen Truppenkonzentrationen an schwach verteidigten Abschnitten verwundbar sind. Obwohl Russland auf eigenem Gebiet anders als bei der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine auch Wehrpflichtige einsetzen kann, sind größere Verluste unter diesen in einer weiteren Abnutzungsschlacht für Moskau aus innenpolitischen Gründen möglicherweise nicht hinnehmbar.
Stefan Axel Boes