Bei der ukrainischen Kursk-Offensive und der russischen Gegenoffensive haben sich die Fronten seit dem russischen Vorstoß auf Malaja Loknja von Norden und dem Zurückdrängen des früheren Vorstoßes von Westen nicht wesentlich verändert. Nachdem russische Truppen Mitte der vergangenen Woche noch zusätzliches Gelände westlich der Ortschaft Orlowka sichern konnten, haben beide Seiten keine weiteren Gewinne erzielt. Offenbar hat auch der Einsatz von bis zu 12.000 nordkoreanischen Soldaten auf russischer Seite dieser bislang keinen neuen Angriffsschwung verliehen.

Mittlerweile wird spekuliert, dass Nordkorea sogar 100.000 Mann entsenden könnte. Möglicherweise als Reaktion auf den Einsatz der Nordkoreaner gegen die Kursk-Offensive oder die erneuten schweren Raketenangriffe Russlands auf die ukrainische Energie-Infrastruktur am vergangenen Sonntag hat der scheidende US-Präsident Joe Biden der Ukraine Anfang der Woche nach langem Zögern nun doch die Genehmigung erteilt, amerikanische ATACMS-Raketen gegen Ziele im russischen Hinterland einzusetzen. Damit erfolgte zugleich die Freigabe für britische und französische Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow/SCALP.
Angriff auf Brjansk
Mutmaßlich gibt es weiterhin Beschränkungen für die Zielauswahl. Jedoch feuerte die Ukraine nach eigenen Angaben in der Nacht zum Dienstag mindestens sechs ATACMS auf ein Munitionsdepot in Brjansk ab, das über 100 Kilometer von der Grenze entfernt liegt. Wie üblich behauptete Russland, alle Raketen abgefangen zu haben, und dass Schäden am Boden lediglich durch herabfallende Trümmer verursacht wurden. Gleichzeitig warnte Moskau erneut vor einer direkten Konfrontation mit der NATO und veröffentlichte am Dienstag seine überarbeitete Nukleardoktrin.
Diese Überarbeitung war bereits im Mai nach ukrainischen Drohnenangriffen auf zwei russische Frühwarnradars tief im Landesinneren, lange vor der Kursk-Offensive, angekündigt worden. Da Russland auch die von ihm annektierten Gebiete der Ukraine als eigenes Staatsgebiet betrachtet und der NATO bereits seit längerer Zeit die Beteiligung an Angriffen auf diese vorwirft, dürfte der Beschuss von Brjansk mit US-gelieferten Waffen jedoch eigentlich keinen neuen Eskalationsschritt für die russische Politik darstellen.
Widersprüchliche Reaktionen
Möglicherweise war das Herausstellen dieses Widerspruchs angesichts der mittlerweile gewohnten russischen Drohrhetorik ein weiterer Grund für die Freigabe zum jetzigen Zeitpunkt nach den US-Wahlen. Russische Medien mussten denn teilweise auch ihre Schlagzeilen über den „ersten Angriff mit westlichen Langstreckenwaffen auf russisches Staatsgebiet“ im Nachhinein ändern, um sich der offiziellen Linie anzupassen.
Auf amerikanischer Seite war die Reaktion aus dem offiziellen Team des künftigen Präsidenten Donald Trump im Gegensatz zu vielen Parteigängern unaufgeregt. Das legt nahe, dass es über die Entscheidung entweder informiert war, und/oder dass sich diese in Trumps angebliche Pläne einfügt, beide Seiten abhängig von ihrer Haltung durch Einstellen oder Verstärkung der amerikanischen Hilfe für die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen. Inwieweit die Freigabe zum Einsatz westlicher Waffen gegen Führungs- und Nachschubknoten im russischen Hinterland der Ukraine beim Halten der aktuellen Frontlinien in der Kursk-Offensive hilft, bleibt abzuwarten.
Gebiet der Kursk-Offensive bleibt bedeutsam
Taktisch ist möglicherweise die gerade angekündigte Lieferung von 4.000 KI-gesteuerten Langstrecken-Angriffsdrohnen bzw. Loitering Munition durch Deutschland – mehrere hundert Stück pro Monat – von größerer Bedeutung. Durch den umfassenden Einsatz elektronischer Kampfführung auf dem Gefechtsfeld verlieren die üblichen ferngesteuerten Drohnen mittlerweile stark an Effektivität, so dass beide Seiten unter anderem auch Typen mit Glasfaser-Lenkung verwenden. Deren Reichweite ist allerdings aufgrund des Übertragungsmediums begrenzt.
Strategisch bleibt das Halten des mit der Kursk-Offensive besetzten russischen Gebiets für mögliche Verhandlungen bedeutsam. Weiter südlich im Donbass rücken russische Kräfte auf ukrainischem Gebiet weiter vor. Obwohl die strategisch wichtige Stadt Prokrowsk weiter nicht eingenommen ist, haben russische Geländegewinne südlich davon die ukrainische Seite im Zusammenwirken mit dem Vormarsch aus Richtung Wuhledar in die Zange genommen. Ein Gebietstausch bliebe daher eine wichtige Möglichkeit für die Ukraine, verlorenes Territorium zurückzuerlangen.
Stefan Axel Boes