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Lessons from ALTRAVERDO – Die Aufklärungskompanie BODEN als Beispiel für undogmatischen Wildwuchs in der gelebten Truppenpraxis

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Seit ihrer Aufstellung im Jahr 2018 im Rahmen der Übungs- und Einsatzsystematik im Aufklärungsbataillon 6 „Holstein“ war die Kernfrage für die Aufklärungskompanie BODEN durchgängig, wie ihre Kräfte bestmöglich und mit hohen Synergieeffekten zur Geltung gebracht werden können.[1] Schon nach kurzer Zeit war klar: taktische Fragen erfordern in Zeiten des materiellen Stillstands und ungewisser Zukunftsstrukturen taktische Antworten und gegebenenfalls auch einen Wechsel des Selbstverständnisses.[2]

Diese eher dem Bauchgefühl und einer taktisch offensiven Einstellung entspringenden Gedanken finden ihre theoretische Fundierung in der cavalry trinity, welche die Aufgaben einer modernen Kavallerie als 1. orient, 2. dislocate und 3. disrupt zusammenfasst.[3]

Bereits 2018 zeigten die ersten Überlegungen auf, dass die Kompanie BODEN zwar mit strukturell vorhandenen siebzehn Spähtrupps[4] den Anteil orient bestens ausführen kann, für einen Coup de Main, das schnellen Ausnutzen günstiger Gefechtslagen zum Herbeiführen von disruption oder dislocation, aber die Voraussetzungen fehlen. Oberhalb der Ebene des Spähtrupps existieren keine Vorgaben dafür, wie diese Aufgaben bewältigt werden können. Es bestand somit Handlungsbedarf, welcher in der Truppe erkannt wurde.

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Aufklärungskompanie BODEN bei der Übung HAFFSCHILD 2019 (Foto: Bundeswehr / AufklBtl 6)

Die Kompanie setzte hierbei von Anfang auf den Ansatz von minimum-mass tactics[5], bei dem – wie schon von v. Moltke gelehrt – die Kräfte auf dem Gefechtsfeld nur zusammenkommen, um zu schlagen und dabei die kleine Kampfgemeinschaft in sich die notwendigen Fähigkeiten vereint.[6] Generelle Weisungen, wann Angriffe auf unterlegenen Feind und mit nahgestecktem Ziel, Handstreich und Hinterhalt durchzuführen sind und welche Risiken dafür eingegangen werden dürfen finden sich daher in jeder Befehlsausgabe – Aufklärung durch Kampf wird also immer mitgedacht. Angesichts der Limitierung unserer Fernmeldemittel kommt es jedoch häufig vor, dass ein Spähtruppführer keine Verbindung zum Gefechtsstand hat und kühn selbst entscheiden muss. Zudem ist er vor Ort – und kann die Lage somit meist auch angemessen einschätzen. Guidance ersetzt command – bei damit einhergehender straffer Erziehung und Ausbildung, so dass ein einheitliches Verständnis des Kriegsbildes und unseres Auftrags auf dem Gefechtsfeld herrscht. Dem freien Wesen der Spähtruppführer während des Auftrags selbst ist diese ehemalige Selbstverständlichkeit eher zu- denn abträglich.[7]

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Nächtliche Befehlsausgabe (Foto: Bundeswehr / AufklBtl 6)

Grundlage für die Befähigung des Trupps bilden die beiden Gefechtshandlungen Handstreich und Hinterhalt, welche immer gemeinsam mit der Unterstützung durch Steilfeuer zu denken sind. Ebenso hat sich für die Kompanie BODEN die Einteilung eines „Führers vor Ort“, der in einem Spähstreifen oder bei einem Aufklärungsziel die verschiedenen Spähtrupps mit Blick ins Gelände und via Sprechfunk gemäß der 3.a) [militärischer Begriff für Absicht, Anm. d. Red.] des Chefs führt, bewährt. Die zügige Massierung von Kräften, das Vermeiden von Informationsverlusten und insbesondere auch das Durchstoßen der feindlichen Sicherungslinie, gegebenenfalls gemeinsam mit der Kampftruppe, haben sich dadurch erheblich vereinfacht.[8]

Dieses System „überverstärkter Spähtrupp“ bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass der Gefechtsstand und ein Kompanieführungselement unnötig wären. Ganz im Gegenteil, müssen doch alle Fähigkeiten im Verbund eingesetzt, zur rechten Zeit an den richtigen Ort und somit zur Wirkung gebracht werden. Ein nächster Schritt ist zudem die immer engere Abstimmung mit der Zelle Joint Fires der Brigade unter Nutzung von Führungsinformationssystemen. Die bruchfreie digitale Übertragung von Zieldaten ist derzeit bei unseren FENNEK noch nicht möglich – und damit vergibt die Bundeswehr erhebliches Potential für den deep fight. Denn nur wenn die Voraussetzungen für das Zusammenwirken der Fähigkeiten vom Gefechtsstand durch die räumliche und zeitliche Koordinierung geschaffen sind, dann kann der Spähtrupp oberhalb seiner Gewichtsklasse boxen. Wenn dann noch Ziele für die Artillerie identifiziert wurden und das Feuer zum richtigen Zeitpunkt abgerufen wird, dann werden die ohnehin bereits vorhandenen Möglichkeiten durch das Zusammenspiel der Fähigkeiten und des Gefechtsstandes taktisch maximal ausgenutzt.[9]

Geschwindigkeit der fahrzeuggebundenen Spähaufklärung, weitreichende technische Aufklärung und die vielseitige Komponente der leichten Spähaufklärung sind im Mix gleichermaßen bedeutend. Insbesondere der leichten Spähaufklärung kommt eine erhebliche, häufig unterschätzte Bedeutung zu.[10]

Während mehrerer Übungsvorhaben wurden junge Spähfeldwebel aus personeller Not in den leichten Spähgruppen eingesetzt – mit guten taktischen Ergebnissen sowie einem Kompetenzgewinn für die jungen Unterführer. Deren Fähigkeiten rundeten die leichten Späher gut ab und zeigten auf, welches Potential durch einen weiteren Unteroffizier mit Portepee analog zum Sensoreinsatzfeldwebel im FENNEK Spähtrupp erschlossen werden könnte. Wie wäre es zum Beispiel mit einem in der taktischen Vorausbefragung ausgebildeten Soldaten im leichten Spähtrupp?[11] Einen an Steilfeuer gut ausgebildeten Späher würde wohl niemand missen wollen oder gar einen solchen mit rudimentären Fähigkeiten der fernmeldeelektronischen Aufklärung? Vielleicht wäre im Spähtrupp auch die Befähigung zum Heranführen von Versorgung aus der Luft ein Gewinn – analog zum pathfinder in der U.S. Army?[12]

Zusammenfassend haben sich auf der Ebene der Kompanie somit folgende Handlungsfelder ergeben:

  1. Standardisierung der Verfahren auf dem Gefechtsstand und zwischen den Spähtrupps – denn nur so kann eine schnelle Massierung und Zusammenarbeit in der Tiefe des Raumes mit geringen Friktionen erreicht werden,
  2. Ausbildung von Steilfeuerverfahren und deren Einbindung in Übungen,
  3. enge Zusammenarbeit mit der Kampftruppe, um von dieser zu lernen, verlorenes Wissen wieder zu gewinnen und insbesondere bei den Königsdisziplinen Durchstoßen der Sicherungslinie sowie der Rückführung und Aufnahme zu bestehen sowie
  4. die zu formende „Befähigung und Motivation zum Kampf“ als Teil des eigenen Selbstverständnisses, auf- wie abgesessen, immer unter Ausnutzung aller Wirkmittel, sowohl im Angriff mit nah gestecktem Ziel als im Hinterhalt und Handstreich, die als Klammer dient.

Die Kompanie BODEN strebt deshalb mit den ihr in der derzeitigen Struktur zur Verfügung stehenden Kräften und Mitteln an, was das derzeitig erwartbare Kriegsbild von ihr zu sein verlangt: Brigadekavallerie.[13]

Autor: Major Felix Lotzin ist Kompaniechef der 2. Kompanie des Aufklärungsbataillons 6 „Holstein“

Dieser Artikel wurde zuerst in der Ausgabe 66 des „Panzerspähtrupp“ veröffentlicht. Er gibt lediglich die private Meinung des Autors wieder.


Quellenverzeichnis

[1] Vergleiche hierzu den in Ausgabe 65 des „Panzerspähtrupp“ veröffentlichen Artikel „Auge und Ohr des Truppenführers – Das operationelle Konzept Aufklärungsbataillon 6 „Holstein“ zur Refokussierung auf das hochintensive Gefecht in Ausbildung & Übung“, welcher das Rational für die Aufstellung der Kompanie erläutert.

[2] Der Artikel hebt daher auch nicht auf neue Strukturen oder Organisationsformen ab – denn Lösungen müssen zügig gefunden werden, nicht erst in Jahrzehnten. Mithin wird ein intra-organisationeller ceteris paribus Ansatz verfolgt, verstanden als Verbesserung der Abläufe ohne – ohnehin nicht im Ermessen eines Kompaniechefs stehende – Veränderungen der strukturellen Gegebenheiten und der Ausstattung.

[3] Zur cavalry trinity aus orient, dislocate und disrupt und den sich aus ihr ergebenden Herausforderungen, insbesondere dem Gedanken einer Brigadekavallerie, vergleiche: Lotzin, Felix. Jenseits der intellektuellen Sicherungslinie – die Studie „Achtung – Boxer!“ als Weckruf für eine Brigadekavallerie. Soldat & Technik vom 04.08.2020

[4] In der Truppeneinteilung des Aufklärungsbataillons 6 umfasst die Aufklärungskompanie BODEN zwölf Spähtrupp auf FENNEK, drei leichte Spähgruppen sowie zwei Radargruppen. Real zur Verfügung standen zumeist fünf oder sechs Spähtrupps, eine leichte Spähgruppe sowie eine Radargruppe.

[5] Krause, Michael G. The case for minimum-mass tactics in the Australian Army. Australian Army Journal, Vol. 2, No. 2, Autumn 2004: 69-79

[6] Vergleiche hierzu auch die Grundzüge der Auflockerung und der schnellen Zusammenfassung von Kräften der Panzertruppen.

[7] Im weiteren Sinne wird damit nur umgesetzt, was mit power to the edge bereits 2003 aufbauend auf der Frage nach dem Ort der größten Informationsverdichtung und damit einhergehend der Frage des bestmöglichen Entscheiders diskutiert wurde. Die Forderung nach größtmöglicher Entscheidungsfreiheit für die Kräfte vor Ort im Rahmen einer klar strukturierten Absicht ist somit kein Novum, sondern Kontinuität. Vgl. Hayes, Richard E. u. Alberts, David S. Power to the Edge: Command and Control in the Information Age. CCRP. 2003.

[8] Vgl. hierzu die Ausführungen von Gen (ret.) Stanley McChrystal zur Notwendigkeit eines einheitlichen Verständnisses von Lage, Auftrag und Absicht bei gleichzeitiger Ermächtigung der unterstellten Führer zum eigenständigen Entscheiden auf der Basis dieses Wissens in: McChrystal, Stanley. Team of Teams: New Rules of Engagement for a Complex World. Penguin. 2015.

[9] Gern als Zielzustand ausgemalt aber angesichts der derzeitigen Führungsmittel nicht umsetzbar ist ein über das Schaffen von Voraussetzungen hinausgehendes direktes taktisches Führen der Kräfte am Boden en detail im Sinne eines zentral geführten auf- wie abgesessenen Jagdkampfes.

[10] In diesem Sinne wird die leichte Spähaufklärung in der AufklKp BODEN nicht als Fernspähaufklärung „light“, sondern als verminderte 5./- und somit „Schweizer Taschenmesser“ verstanden.

[11] Die NATO trennt definitorisch interrogation und HUMINT. Die Ausbildung zum Befrager könnte somit losgelöst von einer Vollausbildung zum Feldnachrichtensoldaten erfolgen und dazu befähigen, eine Befragung ohne detaillierte Auswertung durchzuführen, um so direkt nach der Gefangennahme von feindlichen Soldaten deren Wissen abzuschöpfen und für die weitere Spähaufklärung nutzbar zu machen.

[12] Die Sprengberechtigten aller Truppen gehören ebenfalls in diese Kategorie, sind aber bereits als geforderte Ausbildung hinterlegt. Ihre Befähigung zum Einsatz von Sicherungsminensperren stellt ebenfalls eine wertvolle Abrundung des Profils der leichten Spähaufklärung dar.

[13] Oder als eher dogmatische und an die NATO Terminologie angelehnte Definiton: An asset that orients the commander and is able to disrupt and dislocate through limited offensive action in the deep under favourable circumstances.