StartStreitkräfteKanonen aus Glas – Eine Übersicht über Depostrategien und Waffenreserven

Kanonen aus Glas – Eine Übersicht über Depostrategien und Waffenreserven

Björn Müller

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Waffenreserven, welche die Bundeswehr kaum hat, sind von zentraler Bedeutung, wie der Ukraine-Krieg verdeutlicht. Eine französische Studie zeigt: Nur die USA haben eine ernstzunehmende Depotstrategie, die Europäer gar nicht, ein westlicher Konkurrent baut gefährliches Potenzial für die Zukunft auf.

Eine glaubwürdige Durchaltefähigkeit im Kriegsfall basiert auf Materialreserven. Streitkräfte, die sie nicht haben werden als „gläserne Kanone“ angesehen, heißt es in der Studie „Militärische Lagerbestände – eine Lebensversicherung für hochintensive Kriegsführung?“. Sie ist vor Kurzem beim Think-Tank Französisches Institut für internationale Beziehungen IFRI in Paris erschienen. Die Studie betrachtet die Depotstrategien der USA, Russlands, Chinas sowie Europas mit einem Fokus auf Frankreich. Der Autor ist IFRI-Forscher Léo Péria-Peigné, ein Spezialist für Fragen der Rüstungsindustrie.

Die ausgeprägteste Einlagerungsstrategie verfolgen die Vereinigten Staaten. Nach dem 2. Weltkrieg bauten die US-Teilstreitkräfte massive Reservekapazitäten an Panzern, Schiffen und Flugzeugzellen auf; für eine rasche und umfassende Erholung ihrer Verbände im Fall eines weiteren Weltkriegs mit der UdSSR. Nach dem Kalten Krieg änderte sich der Schwerpunkt. Nun sind die Lager vor allem ein zentrales Werkzeug zur Hege und Pflege des globalen Allianznetzwerks der Weltmacht Nr.1. Über Regierungsverkäufe, sogenannte Foreign Military Sales, gehen vor allem eingelagerte Alt-Waffen an Partnerarmeen, die in der Folge aus den Depots auch Ersatz erhalten.

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Das gilt vor allem für die U.S. Air Force. Sie hat ihre Lagerbestände inzwischen auf die Davis Mothan Base in Arizona zentralisiert, wo mehr als 3.000 Fluggeräte lagern – vom Phantom Jagdbomber von 1960 bis zur Predator-Drohne, die 1995 in Dienst gestellt wurde. Ein riesiges Ersatzteillager für Partnerarmeen, die US-Waffen betreiben, deren Teile längst nicht mehr produziert werden. Wichtig sind hier vor allem 300 konservierte F-16 Kampfjets – der mit 2.248 Exemplaren am weitesten verbreitete Jet weltweit. Das Waffenreservoir der US-Luftwaffe ist gerade mit Blick auf Europa bedeutend, wie Léo Péria-Peigné aufzeigt.

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Dort gibt es einen Ost-West-Unterschied der Lagerhaltung. Nach dem Kalten Krieg hielten die Ostflankenstaaten noch relativ viele Sowjet-Systeme wie Panzer in als Depotreserve. Die gängige Strategie: Die Landsysteme über die eigene Industrie kostengünstig zu modernisieren; die meisten Mittel flossen in die kostenintensivere Luftwaffenrüstung über westliche Systeme. Erst der Ukraine-Krieg hat dazu geführt, dass Tschechien, Slowakei und Co. ihre Landstreitkräfte nun rasch auf Feind-freie Technologie umrüsten wollen. Die „Ringtäusche“ mit Deutschland sind Einstiegsgeschäfte dafür.

In Westeuropa schwenkten die Streitkräfte wegen sinkender Wehretats nach 1990 auf eine radikale Just-in-Time Politik um. Der mobile Fluss des Materials wurde optimiert, zu Lasten des inaktiven Bestands, um die Kosten zu senken. Ein Vorgehen, adaptiert von der Industrie, wo das Konzept als „Toyotismus“ im Japan in den 1960-er Jahren entstand. Es basiert auf perfekt abgestimmten internen Mechanismen samt angepasster Transportinfrastruktur; denn die kleinste Verzögerung in der Kette verursacht Verzögerungen im Ganzen. Ein System das somit explizit anfällig ist für Krisen und unvorhergesehene Ereignisse, wie Kriege. Die Bundeswehr ist ein Paradebeispiel dafür. Für sie galt bis 2014 das Profil einer kleinen Beistandsarmee für NATO und US-Operationen in asymmetrischen Konflikten, wo Durchhaltefähigkeit kaum eine Rolle spielte. Die Materialreserven wurden massiv abgebaut. Nun steht Deutschlands Armee unter dem Doppeldruck Modernisierung plus Ausbau, hat aber gerade beim zentralen Akteur Landstreitkräfte kaum Depotreserven.

Auch hier sind die USA besser aufgestellt. So schreibt Analyst Péria-Peigné, dass die Lagerbestände der U.S. Army dabei helfen, den Modernisierungsdruck der letzten drei Dekaden zu mildern und zu managen. Deren zwei Programme für neue Panzer und Schützenpanzer scheiterten, unter anderem an fehlenden Haushaltsmitteln dafür zu Zeiten der Anti-Terror-Kriege. Ein üppiges Reservoir von tausenden eingemotteter Abrams-Panzer ermöglicht zumindest den sicheren Erhalt der jetzigen Flotte. Die beiden wichtigsten sind das Sierra Army Depot in Kalifornien und das Anniston Army Depot in Alabama. Darüber können Modernisierungen zunächst an den Reservepanzern erfolgen und dann in die aktive Flotte zirkulieren, ohne dass jene kleiner wird.

Das schwache Glied der US-Depotstrategie ist die Navy. Deren Reserven wurden durch die Foreign Sales leergespült sowie stark verkleinert. Die Naval Inactive Ship Maintenance Facilities in Bremerton, Philadelphia und Pearl Harbor hatten 1995 noch 200 Schiffseinheiten, inzwischen sind es unter 50. Die National Defense Reserve Fleet mit Transportschiffen verfügte auf ihrem Höhepunkt 1950 mehr als 2.200 Schiffe, heute weniger als 100. Zudem hat die Navy ein generelles Lagerproblem: Die Konservierung von Schiffen ist besonders kostenintensiv und fragil. Die aufwendige Technik eignet sich immer weniger dazu. Die Marine versucht, ihre ausgemusterten Küstenkampfschiffe zu verkaufen, obwohl einige Rümpfe weniger als zehn Jahre alt sind. Die Schlachtschiffe der Iowa-Klasse von 1940 wurden erst 2006 aus der Reserve genommen. Davor reaktivierte man sie mehrmals. So nahmen sie 1991 am Irak-Krieg teil. Für den Kriegsfall mit einem gleichwertigen Gegner ist die Navy-Reserve kaum von Wert. In einer Analyse Ende der 2010er-Jahre kam die Marine zu dem Schluss, dass hier nur noch ältere amphibische Angriffsschiffe im Depot von Pearl Harbor von Nutzen wären.

In Europa ist Deutschland nicht der einzige Saulus. Die beiden weiteren Hauptmilitärmächte EU/NATO-Europas haben ebenfalls keine belastbare Reservestrategie. In Großbritannien setzte sich seit dem Kalten Krieg zunehmend eine Militärkonzeption durch, die das Streitkräfteprofil auf strategische Befähigungen wie Nuklearwaffen fokussiert. Um Kosten zu sparen, soll vor allem das Heer verkleinert werden. Aus dieser Logik heraus, gab es schon vor Kriegsausbruch 2022 großzügige Materialabgaben an die Ukraine. Zu deren Ertüchtigung starteten die britischen Streitkräfte bereits 2015 die Operation Orbital und stellten bis 2017 bereits Militärhilfen für 2,5 Milliarden Euro bereit.

Auch Frankreich schmolz seine militärische Lagerhaltung in der Post-Kalte-Kriegsphase massiv ab. Die Armee wurde als Expeditionsstreitmacht für asymmetrische Konflikte mit dem Fokus auf Afrika ausgelegt. Für dieses Konzept bündelte man Restreserven, um eine „Anfangsprojektionsautonomie“ zu gewährleisten, wie IFRI-Experte Péria-Peigné schreibt. Dafür wurde über das Depotsystem „Guépard“, in Afrika Material eingelagert. Nach dessen Abruf bei der Anti-Terror-Kampagne Serval in Mali 2013, wurden die Guépard-Depots nicht mehr befüllt, aus Mangel an Ressourcen. Der französische Anspruch, einen Eingreifverband von 2.300 Soldaten – l’échelon national d’urgence – im Umkreis von 3.000 Kilometern sofort zum Einsatz bringen zu können, sei daher übermäßig schwierig, wenn nicht gar unmöglich, so Péria-Peignés Bewertung. Des Weiteren gab es von französischer Seite eine Ertüchtigungslagerhaltung für Afrika. Doch das Material wurde nur teilweise abgerufen, da Konzepte wie die Eingreiftruppe der Afrikanischen Union keine Umsetzung fanden. Schließlich nutzten die französische Armee die Bestände selbst, um beispielsweise ihre Anti-Terroroperation Sentinel in Frankreich mit Fahrzeugen auszustatten.

Inzwischen soll die französische Armee zur Rahmennationenarmee für Europa aufgebaut werden, wieder ausgelegt für das hochintensive Gefecht. Doch die noch verfügbaren Lagerbestände sind dafür kaum eine Hilfe. Die 200 eingelagerten Leclerc-Kampfpanzer wurden über die Jahre massiv ausgeschlachtet. Daraus ein paar Dutzend Panzer zusammenzustellen, um ab 2016 das 5. Dragoner-Regiment wiederaufzustellen, erwies sich als langwieriger Prozess. Erst der angelaufene Ersatz der circa 2.500 Transportpanzer VAB durch den Griffon wird erstmals seit langem eine größere Reserve bei einem Gerät ermöglichen. Zum Beispiel für die Ausrüstung der Reserve, die ausgebaut werden soll. Allerdings steckt der Teufel im Detail. Die alten PR 4G-Funkgeräte des VAB sind nur beschränkt mit den neuen CONTACT-Modellen kompatibel.

Bei der Luftwaffe kollabierte die Depotreserve nachhaltig 2016. Damals wurde das große Zentrallager bei Châteaudun aufgelöst, auf das die Luftwaffe in den Jahren zuvor all ihre Bestände von mehr als 500 Flugzellen samt Ersatzteilen zentralisiert hatte. Unter anderem Mirage und Transall. Bei Frankreichs Marine läuft derzeit das ODIN-Projekt. Es soll mehr als eine Million Teile nach ihrer Bedeutung klassifizieren und so die Lagerhaltung langfristig optimieren. Die modernen Kriegsschiffe haben lange Stehzeiten bei hoch komplexer Technik, was eine aufwendige Bevorratung teils einzigartiger Teile nötig macht. Ironischerweise hatte die Marine sogar Depot-Glück, wie IFRI-Experte Péria-Peigné schreibt. Durch die Verringerung ihrer Anzahl von Fregatten der FREMM-Klasse hat sie mehr Ersatzteile als geplant vom Hersteller übernommen, dank der stornierten Einheiten.

Der akute Hauptgegner des Westens, Russland, verfügt wiederum über die größten Reservebestände weltweit bei den Landstreitkräften. Viele allerdings in schlechtem Zustand. Kontext dafür ist die sowjetische Annahme von einer sehr kurzen Lebendsauer von Fahrzeugen im hochintensiven Gefecht. Dem folgend wurden kostengünstige Panzermodelle in Massen gefertigt. Konnte ein beschädigtes Fahrzeug im Gefecht nicht durch Kannibalisierung anderer Ausfälle vor Ort repariert werden, sollte es umgehend Ersatz folgen. Dementsprechend sind russische Landsysteme auf inkrementelle Verbesserungen ausgelegt, für eine effizientere Produktion. Auch sind die im russischen Panzerbau verwendeten Legierungen widerstandsfähiger gegen extreme Kälte, was eine einfachere Lagerung im Freien ermöglicht, so IFRI-Analyst Léo Péria-Peigné.

So unvollkommen dieser Ansatz sein mag, so sichert er doch vorerst das Durchhalten im Krieg gegen die Ukraine. Zur Fortsetzung der Landinvasion in der Ukraine scheinen die russischen Streitkräfte auf die Nachrüstung von 800 T-62M zu setzen, deren Nachrüstung über die nächsten drei Jahre erfolgen soll. Bei der Marine ist die Reaktivierung eingelagerter Rümpfe und die Modernisierung über Jahre inaktiver Einheiten eine Stütze beim angestrebten Wachstum der Flotte. Doch die Wirkung ist fraglich, wie die Versenkung des Schlachtkreuzers Moskwa von 1976 zeigt, der aufwendig mit redundanten Verteidigungssystemen und Hochleistungsradaren aufgewertet wurde.

Die Luftwaffe Russlands hat dagegen praktisch keine Kampfflugzeuge in Reserve heißt es in der IFRI-Studie. Hier wurde keine Lagerung aufgebaut. Die geringe Anzahl an Hangars, setzt die Flugzeuge zudem besonders der Witterung aus, so dass die Zellen stark abgenutzt werden. Statt Einlagerung erfolgt deshalb meist eine einmalige Ausschlachtung. Besser sieht es bei Transportmaschinen aus. So konnten in den 2010er-Jahren 93 Il-76MD renoviert werden. Unterschätzt wurden zudem die Bestände an ballistischen Raketen und Marschflugkörpern, die im Zentrum der russischen Militärdoktrin einer aktiven Verteidigung stehen. Sie wurden besonders gut gepflegt. Das Schwedische Forschungsinstitut der Verteidigung FOI schätzte den Bestand an Raketenbestand gegen Landziele 2019 auf weniger als 900, während die Russen im Ukrainekrieg schon mehr als 1.500 abgefeuert haben.

Bei China sind praktisch keine Daten und Informationen zur Einlagerungspolitik bekannt. Klar ist jedoch, dass die laufende Modernisierung der Volksbefreiungsarmee bis 2027 riesige Bestände an ausgephasten Waffensystemen schafft. Das bietet China in der nächsten Dekade große Möglichkeiten, um Foreign Military Sales zu einem strategischen Werkzeug zu entwickeln, wie es die USA bereits seit längerem tun, so die Einschätzung von Leó Péria-Peigné.

Link zur gesamten Studie: Militärische Lagerbestände – eine Lebensversicherung für hochintensive Kriegsführung?

Björn Müller