Bereits 2016 wurde im Planungsamt der Bundeswehr (PlgABw) das CPM-Dokument Fähigkeitslücke und Funktionale Forderung (FFF) für das Wirkmittel 1800+ gezeichnet. Ende Juni sollen im Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) die Vertragsverhandlungen beginnen. Ein Vertragsabschluss könnte demnach bis Ende 2019 erfolgen, nachdem sich das Parlament damit Ende des dritten / Anfang des vierten Quartals befasst hat. Als Serie soll es drei Lose á 1.000 Waffen geben, plus Test und Zertifizierungswaffen. Alleiniger vorgesehener Nutzer sind die Spezialkräfte, hier vor allem das Kommando Spezialkräfte (KSK).
Das Projekt startete bereits 2011 mit der Idee und Entwicklung einer solchen Waffe. Grundlage waren die Erfahrungen des KSK in Afghanistan. Dort hatten die Soldaten kein geeignetes Wirkmittel gegen die asymetrischen Kräfte und ihre Waffen auf rund 2.000 m (sMGs (.50) aus Stellungen oder auf Pick-Ups). Eine Luftnahunterstützung oder Steilfeuer stand nicht immer zur Verfügung. Auch die Erfahrungen der anderen Verbündeten zeigten, dass in solchen Szenarien am häufigsten eine Waffe auf Kampfentfernungen bis rund 2.000 m eingesetzt wurde – bei den USA und Großbritanien konkret die JAVELIN (max. Reichweite 4 km).
Gefordert wurde eine tragbare, hochpräzise Waffe, die auf rund 2 km mit einem gelenkten Schuss die angesprochenen Ziele bekämpfen kann und die Gefahr von Kollateralschäden minimiert. Der Nutzer forderte zunächst nur die Tagkampffähigkeit, im Laufe der Zeit kamen aber immer neue Forderungen hinzu, unter anderem die Nachtkampffähigkeit. Um diese Forderung zu erfüllen, musste ein zweiter Sucher (IR) integriert werden. Verfolgt wurde zudem der Familiengedanke mit dem schon eingeführten Dynamit Nobel Defence (DND) Wirkmittel 90 (WiMi 90) sowie des dort verwendeten Feuerleitvisiers (FLV) Hensoldt DYNAHAWK.
Als Ziele sollen ungepanzerte und leicht gepanzerte Fahrzeuge (auch in der Bewegung), einfache Infrastruktur, feindliche Schützen hinter Deckungen und Ziele in Gebäuden bekämpft werden können.
ENFORCER
Der MBDA ENFORCER, der laut MBDA Deutschland 100 Prozent der Forderungen erfüllen kann, gilt als ein heißer Kandidat für die Auswahl als Wirkmittel 1800+. Beim ENFORCER stammt der Gefechtskopf von der TDW Gesellschaft für verteidigungstechnische Wirksysteme mbH. Der ENFORCER nutzt das FLV DYNAHAWK, jedoch nicht den integrierten Ballistikrechner, da dieser für den Verschuss der gelenkten Rakete nicht benötigt wird. MBDA verweist auf den modularen Aufbau der Waffe und dass sich damit sehr leicht und schnell ein Familiengedanke umsetzen lässt. So wäre der ENFORCER mit einem anderen Gefechtskopf auch schnell zur Panzerabwehrhandwaffe aufrüstbar. In einer anderen Anwendung und mit einem anderen Gefechtskopf (Semi-Active-Laser), könnte der Flugkörper auch größere Reichweiten erzielen, so MBDA. Die 2.000 m legt der ENFORCER in ca. 12 Sekunden Flugzeit zurück. Der Flugkörper im Abschussgerät bringt ca. 9 kg Gewicht mit sich, das Gesamtsystem liegt bei ca. 12 kg. MBDA sieht auch eine Integration in Waffenstationen, an UAVs sowie Rails für Luftfahrzeuge oder den LUH (Light Utility Helicopter) vor.
Die Forderung nach Präzision wird durch MBDA nicht offengelegt, aber Demovideos zeigen einen höchstgenauen, direkten und mittigen Treffer auf einem 2×2 m Ziel bei 1500 m – selbst bei beweglichen Zielen. MBDA gibt die Fähigkeiten des ENFORCER wie folgt an:
- Reichweite 2000 m +
- Fire-and-Forget System
- Passive 24h-Fähigkeit
- Lock-On Before Launch (LOBL)
- Höchste Präzision über die gesamte Reichweite
- Multi-Effekt Gefechtskopf mit Multimode-Zünder
- Airburst-Fähigkeit (Luftsprengpunkt)
- Einsatz aus umschlossenen Räumen
- Ein-Mann-Bedienung
Zu Demozwecken hat MBDA auf VR Basis Szenarien (Land & See) entwickelt. Auch wenn vom Kunden nicht angefragt, könnte dies die Basis für ein späteres (Erst-) Ausbildungs- und Einweisunggerät werden. Der Kunde verlangt bisher nur die Einbindung in das Ausbildungsgerät Schießsimulator Handwaffen/Panzerabwehrhandwaffen (AGSHP) der Thales Defence Deutschland GmbH. Neben den geforderten Zielen können laut MBDA auch Luftfahrzeuge in niedrigen Höhen bekämpft werden. So werden in der Simulation auch Hubschrauber dargestellt. Der Multi-Effekt Gefechtskopf ist durch den Schützen einstellbar. Zur Auswahl stehen EFP (Explosively Formed Projectile) sowie die natürliche und definierte Splitterbildung.
Laut Amt für Heeresentwicklung ist das Wirkmittel 1800+ derzeit ausschließlich für die Verwendung bei den Spezialkräften und nicht in der Infanterie vorgesehen. Hier bestünde derzeit kein Bedarf. Die Industrie erwartet aber auch dort ein steigendes Interesse, sobald die Waffe eingeführt ist und erste Erfahrungen aus der Truppe vorliegen. Dies gilt nicht nur für die deutsche Infanterie, sondern auch für ausländische Kunden. Bis 2020 ist die Qualifikation geplant, mit einer Indienststellung ab 2021. Die Serienauslieferung würde bis 2026 erfolgen.
Neben dem ENFORCER kommen natürlich auch Konkurrenzprodukte in Betracht. Bekannt ist, dass EuroSpike mit einer Variante der Rafael SPIKE SR (Short Range) ebenfalls Interesse an der Ausschreibung bekundet hat. Unternehmensintern wird diese angepasste SR-Variante auch als MELLS 2000+ bezeichnet.
André Forkert