StartStreitkräfteLesestoff: RUSI Report zur Anpassung der russischen Taktiken im Ukrainekrieg

Lesestoff: RUSI Report zur Anpassung der russischen Taktiken im Ukrainekrieg

Kristóf Nagy

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Der jüngst vom britischen Think Tank Royal United Services Institute (RUSI) veröffentlichte Bericht „Meatgrinder: Russian Tactics in the Second Year of Its Invasion of Ukraine“ (Fleischwolf: Russlands Taktiken im zweiten Jahr der Ukraineinvasion) beschreibt einschlägig, wie die russischen Streitkräfte sich an die jeweiligen Gegebenheiten und Änderungen des Kriegsalltages in der Ukraine anpassen und damit die ukrainische Seite immer wieder vor neue Herausforderungen stellen.

Die RUSI-Autoren haben eigenen Angaben zufolge für die Erstellung des Berichtes mehrere Offiziere und herkömmliche Soldaten der 1., 17., 24., 25., 30., 51., 58., 71. und 112. Brigade der ukrainischen Streitkräfte im Zeitraum April und Mai 2023 interviewt und anhand dieser Gespräche Änderungen der russischen Einsatzdoktrinen identifiziert.

Der lesenswerte Bericht beinhaltet neben der bereits großen Aufsehen erregenden Aussagen zu der gewaltigen Anzahl an Drohnenverlusten auch insbesondere truppengattungsspezifisch gegliederte Ausführungen zu Beobachtungen bezüglich der aktuellen Einsatzweisen der russischen Infanterie, Pioniertruppe, Artillerie, Panzertruppen, Truppen des elektronischen Kampfes, Flugabwehr, Luftstreitkräfte sowie Führungsstruktur. Final werden Hinweise zusammengefasst, wie die Unterstützung der ukrainischen Seite besser organisiert werden kann.

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Kurzzusammenfassung der Analyse nach Truppengattung

Infanterie: Es ist bereits seit geraumer Zeit offenkundig, dass der Einsatz der Infanterie nicht mehr als Element einer taktischen Bataillonskampfgruppe (Battalion Tactical Group – BTG) zum Tragen kommt. Stattdessen werden die Kampfgruppen je nach Auftrag zusammengesetzt. Hierzu hat das Autorenteam unterschiedliche Kategorien identifiziert, welche sich aus Linieninfanterie, spezialisierten Kräften, Sturmeinheiten und nicht zuletzt, denn als entbehrlich betrachteten Truppenkörpern zusammensetzen. Letztere werden in den im Titel erwähnten Fleischwolf geopfert, um die ukrainischen Verteidiger zur Feuereröffnung zu zwingen bzw. zu sättigen. Hierdurch würden naturgemäß gewaltige Verluste entstehen, welche danach aber von der Linieninfanterie und spezialisierten Verbänden ausgenutzt und in Geländegewinne umgemünzt werden könnten. Als größte Schwäche der russischen Infanterieverbände sehen die Autoren die niedrige Moral, welche sich negativ auf den Zusammenhalt der Einheiten und die Interoperabilität auswirke.

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Pioniertruppe: Die Pionierkräfte der russischen Armee werden als überaus leistungsfähig bewertet. Der Beitrag hebt insbesondere die komplexen und größtenteils durchgängigen Befestigungslinien hervor, welche auch in der Tiefe hinter der Front entstanden sind. Die Nutzung von kombinierten Panzerabwehr- und Schützenminen erfährt eine eigene Betrachtung. Die erwähnten Verteidigungslinien identifizieren die Autoren als eines der größten Herausforderungen für zukünftige ukrainischen Offensivoperationen.

Panzertruppe: Die Verwendung von Panzerverbänden zum Erzwingen eines Durchbruchs oder gar den Kampf in der Tiefe des Raumes findet den Beobachtungen zufolge nicht oder kaum noch statt. Stattdessen wird der Kampfpanzer im Rahmen der direkten Feuerunterstützung gegen ukrainische Feldstellungen eingesetzt. Als Lektion aus dem ersten Kriegsjahr haben die russischen Panzerverbände nach Angaben des Reports zahlreiche Maßnahmen zur Reduzierung der Signatur ergriffen, vornehmlich in Form von Reduzierung der sichtbaren Wärmeemission. Im Verbund mit anderen Maßnahmen in dieser Richtung sei hierdurch die Reduzierung der effektiven Aufklärungs- und Wirkdistanz ukrainischer Lenkflugkörpersysteme zu beobachten gewesen.

Artillerie: Den Schwerpunkt der Anpassungsleistung seitens der russischen Artillerie sieht der Beitrag in der konsequenten Integration von Drohnen. Diese seien direkt den für die Feuerfreigabe befugten Kommandostellen unterstellt, wodurch die Feuerfreigabe zügiger erfolgen kann. Als überaus relevantes Schlüsselelement benennen die Autoren das russische Strelets System, welches nicht nur das Generieren, sondern auch die Kommunikation und Verarbeitung der Aufklärungsergebnisse signifikant verbessert hat. Zudem beobachte man, aus Gründen der Munitionsverfügbarkeit, eine deutliche Verschiebung der Schwerpunktsysteme weg vom Kaliber 152-mm-Haubitzen hin zu 120-mm-Mörsersystemen, sowie der Nutzung von Loitering Munition zur Bekämpfung gegnerischer Artillerie.

Elektronische Kampfführung: Die Fähigkeit zur elektronischen Kampfführung sei ungebrochen gegeben und nicht nur punktuell, sondern auch in der Fläche markant präsent. Dies hat zum einen eine hohe Verlustrate, insbesondere im Bereich der von der Ukraine verwendeten kommerziell verfügbaren Drohnen, zur Folge. Zum anderen sei bekannt, dass die in Echtzeit erfolgende Entschlüsselung der auf einer 256 Bit Verschlüsselung basierenden ukrainischen Kommunikation auf unterer taktischer Ebene realisiert werden kann.

Flugabwehr: Durch den Übergang in eine quasistatische Kriegführung ist es der russischen Flugabwehr möglich geworden, ein vernetztes und integriertes Flugabwehrsystem, primär um die wichtigen Punktziele herum, aufzubauen. Dies hat laut ukrainischen Quellen zur Folge, dass die Effizienz von Mehrfachwerfersystemen höherer Reichweite, wie etwa der HIMARS, merklich abgenommen hat.

Luftstreitkräfte: Die russischen Luftstreitkräfte beschränken sich im Rahmen der Feuerunterstützung von Bodentruppen auf die Nutzung von Waffensystemen, welche kein Überfliegen der Frontlinie nötig machen. Neben ungelenken Raketen kommen auch zu Gleitbomben umgebaute FAB-500 zum Einsatz, da im letzteren Fall ein großer Vorrat zu bestehen scheint. Grund für diese in der Präzision eingeschränkte, aber dennoch für ukrainische Kräfte gefährliche Einsatztaktik sei die hohe Effizienz der ukrainischen Flugabwehr. Im Falle einer ukrainischen Offensivoperation würde sich für die russische Luftwaffe jedoch erneut die Möglichkeit bieten, etwas freier zu agieren, da die ukrainischen Spitzen zunehmend den schützenden Schirm der eigenen Flugabwehr verlassen würden.

Resümee

Der vom Beitrag gebotene Überblick über die seitens der russischen Streitkräfte vorgenommen Anpassungen des Vorgehens zeigt, dass die Armee sehr wohl zur Umsetzung von auf Fehleranalysen basierenden Verbesserungen in der Lage ist. Dieser sei unter Umständen sogar auf einen zentralisierten Lessons Learned Prozess zurückzuführen. Der Bericht hält jedoch fest, dass die angesprochenen Probleme sowie daraus resultierenden Maßnahmen isoliert betrachtet und implementiert werden. Zudem seien sie rein reaktiv und würden keinen holistischen Ansatz ermöglichten, welcher die gesamten Streitkräfte als Organisationen verbessern würde. Dies würde im Falle einer ukrainischen Offensivoperation dazu führen können, dass Maßnahmen zu spät getroffen werden und somit negativen Einfluss auf die Abwehrfähigkeit hätten.

Der gesamte Beitrag in englischer Sprache kann auf der RUSI-Seite frei heruntergeladen werden: Meatgrinder: Russian Tactics in the Second Year of Its Invasion of Ukraine

Kristóf Nagy