Gewaltkriminalität und auch Terrorgefahr bestimmen mittlerweile zunehmend den Alltag der Rettungsdienste. Ob tätliche Angriffe, Amok- oder Terrorlagen: Mitwirkende im Rettungsdienst werden immer häufiger mit lebensbedrohlichen Einsatzlagen konfrontiert. Ärztliche und Organisatorische Leiter, aber auch Notärzte und das nicht-ärztliche Rettungsfachpersonal sind zunehmend gefordert, besondere Vorkehrungen für solche Ereignisse zu treffen und sich mit den Sicherheitsbehörden eng abzustimmen.
Aufgrund der großen Gefahr für Leib und Leben sind für diese Bedrohungslagen spezielle Vorgehensweisen erforderlich. Das 9. Symposium „Taktische Lagen im Rettungsdienst“ am 25. und 26. Juni in Dortmund bietet eine interdisziplinäre Plattform für Hintergründe, Strategien und Taktiken für derartige Einsatzlagen. Soldat & Technik sprach mit Christoph Lippay, Leiter des Symposiums Taktik + Medizin.

S&T: Herr Lippay, was unterscheidet taktische Medizin von der „normalen“ Rettungsmedizin?
Lippay: Der grundlegende Unterschied zwischen normaler Rettungsmedizin und der taktischen Medizin stellt die aktive Bedrohung dar, der die Helfer am Einsatzort ausgesetzt sind. Es handelt sich somit primär um eine polizeitaktische Lage, bei der die Neutralisierung des Täters und anderer Gefahren, insbesondere unkonventioneller Spreng- und Brandvorrichtungen, oberste Priorität hat. Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass es noch zu mehr Opfern kommt. Die medizinische Versorgung, sofern überhaupt möglich, konzentriert sich in dieser akuten Gefahrenlage nur auf das Stoppen lebensbedrohlicher Blutungen.
Sind die Gefahrenquellen neutralisiert beziehungsweise ist ein Versorgungsraum gesichert worden, kann eine umfangreichere Erstversorgung der Verletzten stattfinden. Diese taktische Vorgehensweise erfordert von zivilen Rettungskräften ein Umdenken, denn sie sind dafür ausgebildet, Patienten schnellstmöglich eine umfassende Versorgung zukommen zu lassen, was in einer akuten Amok- oder Anschlagsphase aber völlig kontraproduktiv wäre und die Retter selbst gefährden würde.
S&T: Ende des Monats findet in Dortmund das 9. Symposium Taktische Lagen im Rettungsdienst 2025 statt. Welchen Charakter hat das Symposium, bietet es Vorträge, praktische Ausbildung/Workshops oder eine Produktmesse? Was können Besucher dort sehen, erleben und gegebenenfalls selber durchführen?
Lippay: Die Veranstaltung findet am 25. und 26. Juni in Dortmund statt. Am ersten Tag finden Workshops statt, die in diesem Jahr die Themen „Planung für lebensbedrohliche Einsatzlagen“ und „Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte (PSNV-E) nach lebensbedrohlichen Einsatzlagen“ abdecken. Ein externer Partner führt zudem einen umfangreichen medizinischen Workshop durch. Am zweiten Tag findet das eigentliche Symposium mit insgesamt neun Fachvorträgen statt. Den Auftakt des Symposiums bildet ein ausführlicher Erfahrungsbericht eines Einsatzleiters des Rettungsdienstes zum Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023.
Weitere Vorträge beschäftigen sich unter anderem mit der Optimierung des Eigenschutzes bei Schusswaffen- und Sprengstoffgebrauch, der Psychosozialen Notfallversorgung für Einsatzkräfte (PSNV-E) nach lebensbedrohlichen Einsatzlagen, der Schnittstelle zwischen Notaufnahme und Rettungsdienst beim Terror-MANV, der medizinischen Versorgung von Explosionsverletzungen, der Triage beim Terror-MANV und den medizinischen Auswirkungen bei „Taser“-Einsätzen, was ja durch die jüngste Ankündigung von Bundesinnenminister Dobrindt äußerst aktuell ist, der die Bundespolizei mit Tasern ausrüsten möchte.
Im Vortragsblock „Lessons learned“ werden die Ereignisse im Rahmen einer Geiselnahme in Karlsruhe sowie eines Großeinsatzes in Singen am Hohentwiel mit Verdacht auf Nervenkampfstoffgebrauch vorgestellt.

S&T: An wen richtet sich die Veranstaltung? Bei taktischen Lagen denke ich vor allem an Kräfte des Militärs und der Polizei.
Lippay: Das Symposium wurde ursprünglich für die Kräfte des Rettungsdienstes konzipiert. Mittlerweile sind aber rund ein Drittel der rund 500 Besucher Angehörige von Polizei und Militär. Dadurch bietet unser Symposium eine hervorragende Plattform für einen interdisziplinären Austausch in Theorie und Praxis. Wir bemerken zudem, dass sich zunehmend auch Sicherheitsexperten und private Personenschützer anmelden, die natürlich ebenfalls herzlich willkommen sind. Nicht zuletzt freut es uns auch, dass wir regelmäßig viele Teilnehmer aus Österreich, Lichtenstein, der Schweiz und Luxemburg begrüßen dürfen.
S&T: Hat sich das Thema taktische Lagen im Rettungsdienst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine und die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung verändert?
Lippay: Mit Sicherheit. Die Bedeutung der zivil-militärische Zusammenarbeit hat in sehr kurzer Zeit einen enorm hohen Stellenwert erhalten. Die hiesigen Hilfsorganisationen setzen sich gegenwärtig intensiv mit Szenarien auseinander, wenn in Deutschland der Verteidigungsfall eintreten würde. Die Rahmenbedingungen notfallmedizinischer Versorgungsstrukturen wären dann völlig anders.
Wir wissen zum Beispiel, dass in der Ukraine zivile Krankenhäuser und Versorgungsstützpunkte für Verletzte ebenso gezielt angegriffen werden wie Feuerwehren und Rettungsdienste, wenn sie nach einem Erstangriff an der Einsatzstelle versuchen, Opfern zu helfen. Auf diese brutale Realität müssen wir uns mental und vor allem mit unseren Ausbildungs- und Einsatzkonzepten einstellen. Eine maximale Individualversorgung, wie wir sie bisher kennen, wird es dann nicht mehr geben können.

S&T: Was sind die aktuellen Entwicklungen beim Thema taktische Lagen im Rettungsdienst?
Lippay: Ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft dauerhaft mit einer permanenten Bedrohungslage in Deutschland leben müssen. Und ich befürchte, dass diese sogar noch zunehmen dürfte. Denn die Selbstradikalisierung, insbesondere von jungen Menschen, dürfte größer werden, wenn sie den gesellschaftlichen Anschluss nicht schaffen beziehungsweise sich nicht mehr mit unseren gesellschaftlichen und demokratischen Werten identifizieren und islamistische, links- oder rechtsextremistische Standpunkte einnehmen. Insofern dürften Rettungsdienste und die Polizei noch viel häufiger mit gefährlichen Situationen und Tätern konfrontiert werden, als dies aktuell und in den zurückliegenden Jahren der Fall war.
Wir werden weiterhin erleben, dass Taten dieser sogenannten „einsamen Wölfe“ überwiegend mit Hieb- und Stichwaffen oder mit Fahrzeugen ausgeführt werden. Es ist aus meiner Sicht auch nur eine Frage der Zeit, bis wir in Deutschland wieder von größeren Anschlägen betroffen sein werden, die von Terrororganisationen ausgeführt werden. Die relative Ruhe, die hierzulande um den Da’esh (Islamischer Staat) und Al-Kaida herrscht, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland und deutsche Staatsbürger im Ausland nach wie vor ein Ziel sind.
S&T: Auf Grund der immer häufigeren Übergriffe auf Rettungskräfte werden auch in Deutschland und anderen Ländern Europas das Tragen von stich- und schusssicheren Westen diskutiert. Wie bewerten Sie dieses Thema?
Lippay: Ich persönlich halte hiervon gar nichts, ebenso wenig von ein- oder zweitägigen Selbstverteidigungskursen für Rettungskräfte. Beides kann ein völlig falsches Sicherheitsgefühl vermitteln und unter Umständen die Risikobereitschaft sogar noch erhöhen. Die Wahrscheinlichkeit, selbst mit einer Stichschutzweste unverletzt einen Messerangriff zu überstehen, ist gleich Null.

Viele Messerangreifer wissen sehr genau, wohin sie stechen müssen und trainieren dies auch: nämlich Stiche in den Hals oder in die Leistengegend. Dort schützt keine Weste. Ich halte Schulungen für wesentlicher sinnvoller, die sich auf die Situationswahrnehmung und praktische Eigensicherungsmaßnahmen an der Einsatzstelle konzentrieren.
S&T: Einer der Vorträge beschäftigt sich mit dem Thema „Großeinsatz mit Verdacht auf Nervenkampfstoff“. Ohne Panik schüren zu wollen, aber wie wahrscheinlich ist so ein Einsatz? Und gibt es einen Unterschied, ob es um eine solche Lage im Rahmen der „Terrorabwehr“ oder im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung handelt?
Lippay: Das Thema ist in Sicherheitskreisen dauerhaft präsent und aus gutem Grund seit Jahren fester Bestandteil von Übungen und Konferenzen. Die Gefährdungspotenziale sind für Helfer und Unbeteiligte enorm. CBRNE-Lagen zählen zu den komplexesten Einsatzlagen überhaupt. Die Herstellung einer schmutzigen Bombe ist relativ komplex, aber nicht unmöglich. Der Vorfall in einer Kölner Privatwohnung 2018, in der versucht wurde, das Toxin Rizin herzustellen, zeigt den Ernst der Lage.
Zudem müssen wir heutzutage auch mit staatlichen Akteuren rechnen, die CBRNE-Anschläge auf dem Gebiet des Gegners durchführen oder dortige Terroristen logistisch unterstützen. Insofern ist es durchaus möglich, dass die Grenzen zwischen Terrorabwehr sowie der Landes- und Bündnisverteidigung in Zukunft verschwimmen werden.
Die Fragen stellte Andrè Forkert.