Für den Schutz von Landstreitkräften und kritischer Infrastruktur gegen Bedrohungen aus der Luft im Nah- und Nächstbereich wird zeitnah begonnen, die bestehenden Fähigkeitslücken zu schließen.
Unter dem Eindruck der Geschehnisse im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wird die elementare Bedeutung und Notwendigkeit der Luftverteidigung – insbesondere der bodengebundenen Luftverteidigung – für den Schutz der eigenen Streitkräfte und der kritischen Infrastruktur auch gegen teilweise neue Arten der Bedrohung verdeutlicht. Zur zeitnahen Begegnung derartiger Bedrohungen hat auch das Projekt „Luftverteidigungssystem für den Nah- und Nächstbereichsschutz“ (LVS NNbS) durch diesen Konflikt eine neue Dynamik erhalten. Die Fähigkeitslücke, die bereits 2018 im Rahmen des CPM-Phasendokumentes „Fähigkeitslücke und funktionale Forderung“ (FFF) definiert wurde, wird daher schnellstmöglich geschlossen.
Ziel der Schließung dieser Fähigkeitslücke ist, die Bundeswehr in die Lage zu versetzen, hochmobil sowohl im Verbund als auch autark das gesamte Bedrohungsspektrum (u. a. bemannte und unbemannte Starr- und Drehflügler, Marschflugkörper, RAM, Rocket, Artillery, Mortar) in allen taktischen Lagen bekämpfen zu können.
Das Projekt ist aufgrund seines Umfanges in zwei Teilprojekte unterteilt und wird in mehreren Projektschritten realisiert. Im Rahmen des ersten Teilprojektes wird die Erstbefähigung sichergestellt, die die Entwicklung und Beschaffung von vier Feuereinheiten umfasst. Diese Einheiten verfügen über verlegefähige, stationär einsetzbare Luftverteidigungseinheiten für den Nahbereich (Reichweite größer 20 km) und hochmobile Luftverteidigungseinheiten für den Nächstbereich (Reichweite von ca. 10.000 m). Um die Entwicklungszeit des Waffensystems zu minimieren, wird dabei möglichst auf bereits in die Bundeswehr eingeführte oder zumindest bereits entwickelte Komponenten zurückgegriffen.
Im zweiten Teilprojekt sollen im Rahmen einer Folgebefähigung die Fähigkeitslücken zur mobilen Bekämpfung von Unmanned Aircraft Systems (UAS) kleiner 150 kg (sogenannte UAS Class I) und zur Bekämpfung von Raketen, Artillerie- und Mörsergranaten (sogenannte RAM-Ziele) geschlossen werden. Ebenso sollen weitere Feuereinheiten mit Komponenten, die im ersten Teilprojekt entwickelt wurden, beschafft werden.
Die Gesamtverantwortung für die bodengebundene Luftverteidigung liegt seit der Auflösung der Heeresflugabwehrtruppe im Jahr 2012 bei der Luftwaffe. Ende des Jahres 2022 wurde jedoch auf Initiative von Luftwaffe und Heer die Neuverortung von Aufgaben und Elementen des LVS NNbS und den gemeinsamen Betrieb durch Luftwaffe und Heer durch den Generalinspekteur gebilligt. Dabei werden die Aufgaben des Nächstbereichsschutzes durch das Heer übernommen. Die Aufgaben Nahbereichsschutz verbleiben bei der Luftwaffe. Derzeit werden die notwendigen organisatorischen Strukturen in den beiden Teilstreitkräften aufgebaut.
Feuereinheiten IRIS-T SLM
Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde von Seiten des Verteidigungsministeriums entschieden, dass die zu diesem Zeitpunkt bestehende Fähigkeitslücke im Bereich der bodengebundenen Luftverteidigung schnellstmöglich geschlossen werden muss. Hierzu wurde die Beschaffung von Feuereinheiten IRIS-T SLM Infra-Red Imaging System Tail/Thrust Vector-Controlled – Surfaced Launched Medium Range) von der Firma Diehl Defence GmbH & Co. KG eingeleitet, die dann Mitte 2023 unter Vertrag genommen werden konnte. Jede Feuereinheit besteht aus drei Startgeräten für den Lenkflugkörper IRIS-T SLM, einem Radargerät TRML-4D, einem Gefechtsstand, einem Nachladefahrzeug und einer Logistikkomponente. Die für den Export entwickelten Feuereinheiten IRIS-T SLM konnten jedoch nicht 1:1 übernommen werden, da die Integration in die NATO-Luftverteidigungsstruktur (NATINAMDS) zwingend gefordert wurde. Zu dieser Integration müssen einige Komponenten umgerüstet werden sowie eine Reihe von internen Zulassungen, u. a. zur Erfüllung deutscher Rechtsnormen, durchgeführt werden. Dennoch wird die erste Feuereinheit noch in diesem Jahr an die Bundeswehr übergeben. Nach der Qualifikation/Einsatzprüfung der Feuereinheit, die für die Genehmigung zur Nutzung Voraussetzung ist, kann die Nutzung Ende 2025 mit Auslieferung der zweiten Feuereinheit beginnen. Die weiteren Feuereinheiten werden beginnend ab 2026 an die Bundeswehr übergeben.
Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz
Im Nahbereich des LVS NNbS werden die gleichen Komponenten wie bei den Feuereinheiten IRIS-T SLM genutzt. Als Effektor wird der Lenkflugkörper IRIS-T SLM eingesetzt und für die Aufklärung wird das Mittelbereichsradar TRML-4D der Firma Hensoldt Sensors GmbH genutzt. Dieses verfügt über eine Erfassungsreichweite von mehr als 100 km. Ein entscheidender Vorteil dieser beiden Komponenten ist ihr ferngesteuerter Betrieb von einem gemeinsamen Gefechtsstand aus und damit eine geringe Anzahl an notwendigem Bedienpersonal.
Für den Nächstbereich wird der Lenkflugkörper IRIS-T Surfaced Launched Short Range (SLS) von Diehl Defence als Effektor verwendet. Es handelt sich hierbei um den bei fliegenden Waffensystemen (u. a. Eurofighter) eingesetzten IRIS-T L/L (Luft/Luft), der bei LVS NNbS allerdings mittels angepasster Lenkungssoftware vom Boden aus verschossen wird. In Schweden wird dieser Lenkflugkörper bereits erfolgreich genutzt. Ein zentraler Unterschied zwischen dem in Schweden eingesetzten Waffensystem und den Nächstbereichsschutzkomponenten des Luftverteidigungssystems besteht jedoch in der Fähigkeit der neuen Flugabwehrraketenpanzer (FlaRakPz) des Systems sowohl die Detektion der Ziele als auch ihre Bekämpfung aus der Bewegung heraus auszuführen. Die Panzer verfügen dabei sowohl über Effektorik als auch die notwendige Sensorik. Überdies sind die Flugabwehrraketenpanzer autark einsetzbar, wenn dies operationell erforderlich sein sollte. Um den Landstreitkräften auch im schweren Gelände folgen zu können, basiert das Fahrgestell auf dem GTK Boxer.
Mit der Sensorik im FlaRakPz ist es möglich, das gesamte Zielspektrum in einer Entfernung bis zu 20 km zu detektieren, darunter auch kleine Ziele wie Mörsergranaten oder Mini- und Micro-UAS. Die Panzer besitzen hierfür sowohl ein Radar als auch optische Sensoren. Das verwendete AESA-Radar (Active Electronically Scanned Array) SPEXER 2000 3D ist sogar in der Lage, UAS Class I (auch Mini- und Micro-UAS) zu klassifizieren. Das Radar wird bereits in dem stationären Waffensystem ASUL bei der Bundeswehr eingesetzt. Um eine 360 Grad Abdeckung erreichen zu können, werden die Radarantennen in den Turm des Flugabwehrraketenpanzers integriert. Zur Freund-Feind-Identifikation der Ziele wird darüber hinaus ein entsprechender Transponder in das Fahrzeug integriert.
Zur Realisierung dieses Waffensystems wurde im Januar 2024 ein Entwicklungsvertrag mit der ARGE NNbS GbR (Arbeitsgemeinschaft Nah- und Nächstbereichsschutz), bestehend aus den Firmen Rheinmetall Electronics GmbH, Diehl Defence GmbH & Co. KG und Hensoldt Sensors GmbH, geschlossen.
Die Kommunikation wird bei dem Waffensystem LVS NNbS eine der wichtigsten Komponenten der Entwicklung sein. Die einzelnen Komponenten des Waffensystems werden dabei untereinander über Funk oder Lichtwellenleiter zusammengeschaltet und tauschen die Luftlagedaten aus. Gesteuert wird die Staffel grundsätzlich vom stationären Gefechtsstand (GefStd) oder dem funktional gleich ausgestatteten Feuerleitpanzer (FltPz) für die mobilen Kräfte. Die Kommunikationsanbindung der Staffel an externe Netze geschieht über den Gefechtsstand Führungsunterstützung (GefStsFüUstg). Über diesen besteht die Möglichkeit der Verbindung z. B. in das Heimatland oder an höhere Gefechtsstände. Der Feuerkampf im Nahbereich soll primär durch den Feuerleitpanzer geführt werden. Dazu können auch die Effektoren IRIS-T SLM des Mittelbereichswaffenträgers (MBWT) und das Mittelbereichsradar an den Feuerleitpanzer angeschlossen werden. Das Mittelbereichsradar liefert dabei die Luftlage für den Einsatz der IRIS-T SLM. Gleichzeitig erhalten die Flugabwehrraketenpanzer eine Luftlage mit einer größeren Reichweite, um eine Vorwarnung vor relevanten Zielen zu erhalten. Im Nächstbereich wird der Feuerkampf durch den Feuerleitpanzer überwacht. Die Aufklärung geschieht grundsätzlich über die eigene Sensorik des schießenden FlaRakPz mit einer möglichen Voreinweisung über das Mittelbereichsradar (MBR). Für die beschriebenen Aufgaben kann der FltPz sowohl stationär als auch in der Bewegung eingesetzt werden.
Neben der Anbindung des Waffensystems LVS NNbS an die im Bereich der Luftverteidigung üblichen Link-Verbindungen (Link 16 und Joint Range Extension Applications Protocol, JREAP-C) haben alle Komponenten auch die Möglichkeit, mit dem zukünftigen Gefechtsführungssystem des Heeres „Digitalisierung landbasierter Operationen“ (D-LBO) zu kommunizieren. Dabei wird vom Waffensystem die Bodenlage genutzt, um die eigenen Kräfte besser schützen und einsetzen zu können. Für die Landstreitkräfte können über D-LBO ausgewählte Bedrohungsdaten der Luftlage (z. B. Daten zu RAM-Angriffen) weitergegeben werden.
C-UAS Class I, mobil
Ein zentraler Bestandteil des zweiten Teilprojektes Luftverteidigungssystem für den Nah- und Nächstbereichsschutz ist die Schließung der Fähigkeitslücke im Bereich der mobilen Bekämpfung von UAS Class I innerhalb des Waffensystems LVS NNbS. Angesichts der derzeit verstärkt beobachtbaren und zunehmenden Bedrohung durch diese unbemannten Systeme, die aktuell im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sehr deutlich werden, soll die Teilfähigkeit mobile Bekämpfung von UAS Class I mit zusätzlichen Teilsystemen des LVS NNbS entgegen der ursprünglichen Planung vorzeitig erlangt werden.
Bis dato verfügt die Bundeswehr bereits über stationäre C-UAS Class I Systeme, wie z. B. das Abwehrsystem gegen unbemannte Luftfahrzeuge (ASUL) und das tragbare elektronische Störsystem System HP 47, die u. a. in Mali zum Einsatz gekommen sind. Allerdings verfügt die Bundeswehr derzeit noch nicht über die Fähigkeit, Landstreitkräfte in der Bewegung gegen C-UAS Class I zu schützen.
Zu diesem Zweck werden für den Nächstbereichsschutz Fahrzeuge basierend auf dem GTK Boxer-Fahrgestell mit C-AUS-Fähigkeit beschafft. Diese Flugabwehrkanonenpanzer (FlakPz) sind mit einer 30-mm-Maschinenkanone und dem Lenkflugkörper Stinger bewaffnet. Mit der im Turm eingerüsteten Sensorik (sowohl Radar als auch optische Sensoren) können auch kleine Drohnen entdeckt und bekämpft werden. Mit Stinger kann sich der FlakPz bei Bedarf auch gegen Starr- und Drehflügler schützen. Operativ werden die Flugabwehrkanonenpanzer später in eine Feuereinheit des Luftverteidigungssystems integriert werden. Dazu sind sie bereits jetzt mit den entsprechenden Kommunikationsmitteln ausgestattet. Der Vertrag für die Entwicklung und Beschaffung der Panzer wurde im Februar 2024 mit der Firma Rheinmetall Electronics GmbH unterzeichnet.
Um die Fähigkeitslücke C-UAS vollständig schließen zu können, muss noch ein spezieller Lenkflugkörper gegen UAS beschafft werden. Dieser wird voraussichtlich ab 2028 anstelle des Stinger in den FlakPz integriert werden. Es ist geplant, dass die Fähigkeitslücke C-RAM im Zuge der Nachbeschaffung weiterer Feuereinheiten für LVS NNbS mit einem verfügbaren System ab voraussichtlich 2029 geschlossen wird.
Mit diesen hier erläuterten Projekten soll die Fähigkeitslücke der Luftverteidigung, die in der genannten funktionalen Forderung beschrieben ist, ab 2029 komplett geschlossen werden.
Leitender Technischer Regierungsdirektor Harald Albrecht, Projektleiter im Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr