Bei der ukrainischen Kursk-Offensive gegen russisches Territorium sind die zuletzt zunehmend konsolidierten Frontlinien durch Vorstöße beider Seiten wieder in Bewegung geraten. Zunächst konnten die ukrainischen Streitkräfte einige weitere zuvor umkämpfte Geländeabschnitte sichern. Insbesondere gelang ihnen dies bei der Ortschaft Krasnooktjabrskoje am Ufer des Flusses Seim im Westen des Kampfgebiets, im Norden bei Kremjanoje und Pogrebki.
Am gestrigen Dienstag starteten dann russische Truppen im Westen, zwischen die der Vorstoß zum Seim einen Keil getrieben hatte, eine Gegenoffensive. Diese hat nach Angaben russischer Militärblogger die Gegend um Snagost – die damit zum vierten Mal den Besitzer gewechselt hätte – und entlang der von der ukrainischen Grenze dorthin führenden Straße wieder unter ihre Kontrolle gebracht, und die ukrainischen Kräfte bei Krasnooktjabrskoje eingekesselt. Bereits zuvor war es ihnen gelungen, die Ukrainer vom Ortsrand von Korenewo im Nordwesten sowie bei Ulanok im Südosten zurückzudrängen.
Die punktuelle Kontrolle des Seim-Ufers durch die Ukraine hätte die Situation der russischen Truppen südlich des Flusses möglicherweise weiter verschlechtert. Bisher hielten sie sich trotz Zerstörung der festen Brücken und ständiger ukrainischer Angriffe auf provisorische Übergänge weiterhin. Mit dem Vorrücken auf die Straße von der ukrainischen Grenze nach Snagost und der erneuten Rückeroberung dieses Ortes drehen sie nun gewissermaßen den Spieß um. Sollten sich die russischen Meldungen bestätigen, hätte die Ukraine eine von zwei ausgebauten Nachschubrouten in das Kampfgebiet verloren.
Östlich und nördlich von Pogrebki konnte die Ukraine zuvor zwar Gelände entlang der Straße nach Lgow sichern, was wiederum die Möglichkeit der Umfassung dieses umkämpften Ortes eröffnet. Insgesamt war die Geschwindigkeit der ukrainischen Geländegewinne im Lauf der nun fünfwöchigen Offensive aber erheblich zurückgegangen. Es lassen sich bislang folgende Phasen unterscheiden:
- Der anfängliche überraschende Vorstoß mit kleinen motorisierten Einheiten gegen schwache Verteidigung in den ersten Tagen nach dem 6. August bis Semenowka im Norden und Giri im Osten.
- Russische Gegenangriffe mit der Rückeroberung einiger Ortschaften bei gleichzeitigen weiteren ukrainischen Vorstößen bis zu 35 Kilometer Tiefe und Begegnungsgefechten bei geringer Truppenstärke auf beiden Seiten in der zweiten Woche.
- Klärung der Fronten und Konsolidierung der von beiden Seiten kontrollierten Gebiete aufgrund zunehmender Wiederherstellung des „gläsernen Gefechtsfelds“ mit omnipräsenten Überwachungs- und Wirkmitteln in den folgenden drei Wochen, wobei die Ukraine vorerst noch begrenzt die Initiative behielt.
Ob die Initiative mit den jüngsten Entwicklungen nun auf die russische Seite übergeht, bleibt abzuwarten. Beide Seiten haben mittlerweile erhebliche zusätzliche Kräfte zugeführt und erleiden gleichzeitig erhebliche Materialverluste. Die Ukraine muss daher entscheiden, ob sie mit etwa vorhandenen Reserven dieses Unternehmen weiter verstärken oder eine von russischer Seite befürchtete weitere Operation an anderer Stelle durchführen will.
Stefan Axel Boes