Für Disruption bzw. disruptive Technologien gibt es keine einheitliche Definition. Bekannt aus der Tech-Szene des Sillicon Valley wird diese Begrifflichkeit häufig auf Technologien angewendet, sobald diese das Potential besitzen, etablierte Produkte in ihrem Segment zu revolutionieren. Durch Digitalisierung ursprünglich analoger Produkte werden diese beispielsweise in die Lage versetzt, ein erheblich höheres Potential zu entfalten. Nichts anderes verspricht die Integration eines elektronischen Richtmittels für den Kommandomörser.
Kommandomörser
Der Kommandomörser an sich ist sehr einfach erklärt. Ein Rohr mit Bodenstück und eine 60-mm-Mörserpatrone bilden das gesamte Waffensystem. Gezielt wird mittels Ausrichtung des Rohres in Zielrichtung per Hand. Die Neigung des Rohres und Anzahl der Treibladungsringe an der Patrone bestimmt die Entfernung, die die abgefeuerte Patrone zurücklegt. Ziele lassen sich so bis zu einer Entfernung von ca. 1.500 m effektiv und vergleichsweise schnell bekämpfen. Auf Distanzen jenseits der 500 m birgt die grobe Ausrichtung des Rohres per Hand Fehlerquellen für die Zielgenauigkeit der Waffe. Selbst geübte Mörsertrupps benötigen dann mehrere Schüsse, um die Wirkung ins Ziel zu bringen. Mit erhöhtem Stressfaktor (Erschöpfung, Feindbeschuss, erhöhtem Puls durch körperliche Anstrengung, …) wächst sowohl die benötigte Munitionsmenge als auch der Zeitbedarf für die Zielbekämpfung.
Elektronisches Richtmittel GRAM
Hier setzt Hirtenbergers auf der DSEI präsentiertes elektronisches Richtmittel an. Bei nur 900 g Gewicht kombiniert das GRAM (GRid Aiming Mode) mehrere Lagesensoren für die Lagebestimmung des Rohres im Raum und eine kabellose Schnittstelle für die Kommunikation mit der Recheneinheit. Am Rohr mittels einer Schelle befestigt, ermöglichen die integrierten Lagesensoren eine deutlich genauere Bestimmung der Seiten- und Höhenneigung des Rohres, als dies mittels klassischer Libellen erreicht werden kann.
Die präzise Ausrichtung des Rohres als der treibende Faktor für die Zielgenauigkeit des Kommandomörsers, wird somit merklich verbessert und bedingt auch einen geringeren Zeitbedarf und Munitionsansatz für die Zielbekämpfung. Schützenbedingte Fehlschüsse entfallen, die damit verbundenen Kollateralschäden werden soweit wie möglich vermieden. Die effektive Reichweite wird ebenfalls gesteigert, da die höhere Treffergenauigkeit die Bekämpfung weiter entfernter Ziele zulässt.
Disruption
Höhere Bekämpfungsgeschwindigkeit und gesteigerte Präzision alleine machen den Kommandomörser zwar besser, aber für die Einstufung der Technologie als distruptiv reicht dies nicht aus. Zum 2.0 wird der Kommandomörser dadurch, dass eine direkte Sichtverbindung des Mörserschützen zum Ziel nicht mehr notwendig ist.
Was sich nach wenig anhört, birgt in der Tat aber das größte Potential dieser Technik. Eine direkte Sichtverbindung bedeutet in erster Linie Gefahr. Für den Einsatz des Kommandomörsers musste bis jetzt Ziel, Rohr und Schütze in eine Flucht gebracht werden. Sowohl Mörser als auch der Schütze waren exponiert und konnten somit vom Feind aufgeklärt und in letzter Konsequenz auch bekämpft werden. Mit Hirtenbergers neuem System entfällt dieser Faktor. Eine Exposition einer deutlich geringeren Körpersignatur zur Ziellageermittlung mittels klassischer Hilfsmittel (Doppelfernrohr, Karte und Kompass) oder moderner Beobachtungsmittel wie einem Laserentfernungsmesser reicht nun für den Einsatz des Waffensystems aus. Schütze und Waffe können hinter einer Deckung verbleiben.
Damit ist das Potential des GRAM jedoch noch nicht erschöpft. Da der Einsatz der Waffe nun nicht mehr von der Flucht des zielenden Auges, des Mörsers und dem Ziel abhängt, sind auch weitere Einsatzverfahren für das System denkbar. Der Kommandomörser ist nicht mehr auf das direkte Richten limitiert, das GRAM befähigt den Kommandomörser zum indirekten Richten.
Während der in einen Infanteriezug eingegliederte Mörsertrupp sich beispielsweise noch auf dem Marsch befindet und infanteristisch korrekt das sich bietende Gelände als Deckung ausnutzt, hat ein zur Überwachung eingesetzter Scharfschützentrupp eine potentielle Flankenbedrohung aufgeklärt. Mittels seines Laserentfernungsmessers und des eigenen GPS ermittelt der Trupp in wenigen Sekunden die genaue Position des Zieles. Da sich das Ziel außerhalb der Reichweite des Scharfschützen befindet oder der Scharfschütze seine Stellung durch direkte Bekämpfung des Zieles nicht preisgeben will, kann der Scharfschütze die feindliche Position mittels Daten- oder Sprechfunk direkt an den Mörsertrupp übertragen. Während der Richt- und Ladeschütze die Waffe innerhalb weniger Sekunden zum Einsatz vorbereiten, verarbeitet der Truppführer die Zielmeldung mittels der Recheneinheit zu einem Feuerkommando (Richtungswinkel, Erhöhung des Rohres und Anzahl der Treibladungsringe) für seinen Trupp. Nur wenige Sekunden nach Anforderung des Mörserfeuers durch den Scharfschützen verlässt die erste Patrone das Mörserrohr.
Fehlschüsse sind bei sachgerechter Bedienung des Systems nur noch durch externe Faktoren (bspw. Wetter) möglich. Im besten Fall, also der Nutzung von Datenfunk und dem Vorhandensein eines idealen Einsatzwetters (Windstille in allen Höhenschichten), ist der ganze Prozesse in zwei bis drei Minuten abgeschlossen, und alle Beteiligten können sicher ihrem ursprünglichen Auftrag nachgehen.
Interoperabilität und weitere Leistungspotentiale
Der Charme des Systems liegt in seiner Add-On Fähigkeit. Der Nutzer entscheidet, ob er den Kommandomörser klassisch oder digitalisiert nutzen will, indem er das Richtmittel an den Mörser schnallt oder eben nicht. Die Grundfunktionalität des Mörsers ist davon in keiner Weise betroffen.
Da jegliche 60-mm-Munition mittels einer Integration der jeweiligen ballistischen Daten in den Ballistik-Rechner abgebildet werden kann, können bereits eingeführte Kommandomörser, auch bei Nutzern von Munition anderer Hersteller, sehr einfach kampfwertgesteigert werden.
Das volle Potential, bezogen auf Gewichtsreduzierung bei gleichbleibender Wirkung, entfaltet das System bei der Nutzung der hauseigenen Commando Munition (60 MM CDO), welche eine gleichwertige Wirkung wie die klassische 60-mm-Spreng-Patrone bei ca. 30 Prozent weniger Gewicht aufweist. Der Hersteller arbeitet daran, diese Patrone mittels der hauseigenen ConFrag Technologie (kontrollierte Fragmentierung) hinsichtlich der Wirkung noch weiter zu optimieren. Bei gleichbleibendem Gewicht wird davon ausgegangen, dass eine Wirkungssteigerung (Letalität) von mehr als 50 Prozent erreicht wird. Die Qualifizierung der Patrone soll Unternehmensangaben nach Ende 2017 abgeschlossen sein.
Eine einfache Rechnung lässt das Potenzial des Systems erahnen: Bezogen auf die aktuelle Truppbewaffnung mit einem Kommandomörser trägt der Mörsertrupp ca. 30 kg an Gewicht (Kommandomörser ca. 10 kg und 10 Patronen a ~1,79 kg). Mit der neuen Kombination wären es nur 24 kg (Kommandomörser, Richtmittel und 10 Patronen a ~ 1,25 kg), neben der Gewichtsreduzierung verspricht man sich eine um 50 Prozent höhere Wirkung (letale Wirkung gegenüber eine Standard 60mm HE-Patrone) bei deutlich gesteigerter Präzision, Ersttrefferwahrscheinlichkeit und Bekämpfungsgeschwindigkeit erreicht, ohne dabei Einbußen in der Reichweite zu haben.
Verfahrens- und Handhabungstrainer für Kommandomörser
Die nächsten Entwicklungsschritte sind bereits angestoßen. Ein Vertreter des Unternehmens zeigte auf der DSEI auf, dass das elektronische Richtmittel neben der primären Funktion der Leistungssteigerung des Kommandomörsers noch weiteres Entwicklungspotential aufweist. So ist Hirtenberger derzeit unter anderem damit beschäftigt, das System Elektronisches Richtmittel (Beobachtungsmittel in Kombination mit Datenfunk, ballistischem Rechner und elektronischem Richtmittel) ergänzend als vollwertigen Handlungs- und Verfahrenstrainer und Simulator für die Life-Simulation für den Verbund Beobachter (Zugführer Infanterie, Scharfschütze, Kommandosoldat, STF-Beobachter oder Truppführer Mörser) und Kommandomörsertrupp zu entwickeln. Die Fähigkeiten der dafür notwendigen Kommunikation zwischen den einzelnen Elementen sind bereits implementiert. Gearbeitet wird an einer Möglichkeit der Darstellung simulierter Treffer im Zielgebiet. Dies könnte sowohl über pyrotechnische Mittel oder mittels einer Virtual-Reality-/Augmented-Reality-Brille für den Schießenden (Beobachter oder Mörsertrupp) erreicht werden.
Fazit
Mit dem GRAM könnte Hirtenberger ein großer Wurf gelungen sein. Während sich die Mittbewerber auf die Optimierung von Munition (bzgl. Gewichtsreduzierung, Wirkung, Zielgenauigkeit und Lenkfähigkeit) sowie die Integration und Automatisierung von großkalibrigen Mörsern in moderne Plattformen konzentrieren, hat das österreichische Systemhaus für Mörser einen Weg gefunden die Leistungsfähigkeit des weitverbreiteten 60-mm-Mörsers schnell und unkompliziert zu steigern.
Waldemar Geiger