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Munition: Die hohe Kunst der Logistik

Thomas Nielsen

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Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 war für einen großen Teil der Welt, nicht zuletzt für Westeuropa, ein Weckruf und die Erkenntnis, dass ein hochintensiver Krieg in Europa weniger unwahrscheinlich ist, als man bisher angenommen hatte. Diese Erkenntnis hat zu einem intensiven Nachdenken über die Finanzierung von Streitkräften und die militärische Einsatzbereitschaft geführt. Ein erheblicher Teil dieser Diskussion galt der Logistik. Konkret der Munitionsproduktion und -versorgung im Krieg, worauf auch dieser Beitrag eingehen. Dabei gilt zu bedenken, dass die im Beitrag aufgeführten Argumente auch auf allen anderen Versorgungsgüter – von Ersatzteilen für Gefechtsfahrzeuge bis zum Toilettenpapier für die Truppe – übertragbar sind, auch wenn sich der vorliegende Artikel auf die Thematik der Munitionslogistik konzentriert.

Ein Großteil der vergangenen und aktuellen Diskussionen über die Munitionslogistik beschränkt sich auf Lagerbestände. Häufig anzutreffende Fragen sind: Wie viel von welcher Art von Munition benötigen die NATO und die Staaten, um für einen möglichen Krieg in Europa gerüstet zu sein? Und wie sieht es mit der Versorgungssicherheit aus, d.h. wie kann diese Munition unter Berücksichtigung der europäischen (und weltweiten) Kapazitäten der Verteidigungsindustrie und der Lagerbestände der verbündeten Staaten nachbeschafft werden?

Zur Beantwortung dieser Fragen spielen drei Faktoren eine wesentliche Rolle: Die vorhandenen Bestände (wie viel haben wir derzeit auf Lager), die erwartete Verbrauchsrate im Kriegsfall (wie viel brauchen wir pro Tag/Woche/Monat) und in welchem Tempo können wir mit Nachschub aus der Industrie oder von verbündeten Nationen rechnen?

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Wie in einem vorhergehenden Artikel („Munitionsproduktion für Handwaffen im postnuklearen Zeitalter“ von Scott E. Willason und Thomas L. Nielsen, veröffentlicht im Wehrtechnischen Report Soldat & Technik 2023) dargelegt, haben viele Nationen nach dem Ende des Kalten Krieges die nationale Munitionsproduktion aufgegeben, da der erheblich geringere Bedarf an Munition eine nationale Produktion als unwirtschaftlich erscheinen ließ. Der „Trickle-Down“-Effekt für die europäische Munitionsindustrie war ein Mangel an Entwicklung, Erweiterung und Aufrechterhaltung von Fähigkeiten aufgrund des reduzierten Kundenstamms (zum Teil auch aufgrund relativ restriktiver europäischer Exportkontrollgesetze, die den Export beschränkten). Wenn die europäische Munitionsproduktion nicht wiederbelebt wird, und zwar sowohl in Bezug auf die Kapazitäten als auch auf die Fähigkeiten, wird dies den dritten oben genannten Faktor (Nachschub aus der Industrie) ernsthaft beeinträchtigen. Gleichzeitig und aus denselben Gründen wird die Versorgung durch verbündete Staaten immer unwahrscheinlicher, insbesondere im Falle eines größeren Krieges, da die genannten verbündeten Staaten a) ihre nationalen Bestände ebenfalls reduziert haben und b) diese Bestände nun selbst dringend benötigen. Damit gewinnt die Frage nach dem aktuellen Umfang und dem künftigen Bedarf an nationalen Beständen an Bedeutung.

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Die NATO selbst hat sich bereits seit Jahren vor der Invasion in der Ukraine darum bemüht, die Frage der Lagerbestände durch die Arbeit ihres „Stockpile Planning Committee“ (SPC) in einen formelleren Rahmen zu stellen. Das SPC hat sich um die Formalisierung und Harmonisierung der Versorgungs- und Vorratsplanung bemüht, um zumindest ein gewisses Maß an Übereinstimmung in der Frage zu erzielen, wie zu bestimmen ist, was eine „ausreichende“ Vorratsmenge ist, wie diese Menge aussieht und wie sie am besten erreicht werden kann.

Die Höhe der Lagerbestände ist zwar ein wesentlicher Bestandteil jeglicher Diskussionen und Planungen im Bereich der Munitionslogistik, aber sie ist nicht das A und O. Man könnte sogar argumentieren, wie es in diesem Artikel getan wird, dass die oben genannten Fragen der Lagerbestände und der Versorgungssicherheit die letzten Fragen sind, die wir stellen müssen, so wichtig sie auch sind.

Das Argument ist, dass ein Großteil der vergangenen und aktuellen logistischen Planung das Thema sozusagen „vom falschen Ende her“ betrachtet hat. Wir sollten dort ansetzen, wo die Munition gebraucht wird: An der Front.

Die Front

Es dürfte niemanden überraschen, dass an der vordersten Front Munition für Artillerie, Infanterie, Panzer, Flugabwehr und eine Vielzahl anderer Waffensysteme benötigt wird. Die Erfahrungen aus dem Krieg in der Ukraine haben die Bedeutung der Rohr- und Raketenartillerie noch einmal deutlich gemacht, so dass wir sie im Folgenden als Beispiel heranziehen werden.

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