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Munitionsaustausch in der NATO – von der Normung zur Austauschbarkeit in der Praxis

Thomas Nielsen

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Die russische Invasion in der Ukraine und die daraus resultierenden massiven Material- und Munitionslieferungen der NATO-Staaten haben einmal mehr deutlich gemacht, wie wichtig Austauschbarkeit – insbesondere von Munition – ist und wie die Normung diese erleichtern kann. Dies gilt nicht nur für die Abgaben an die Ukraine, die eine breite Palette von Systemen und eine ebenso breite Palette von Munition umfassen, sondern auch für die Gewährleistung der Austauschbarkeit innerhalb des Bündnisses, da sich die Staaten darum bemühen, ihre eigenen erschöpften Bestände wieder aufzufüllen.

Die Standardisierung ist seit jeher einer der Eckpfeiler des NATO-Bündnisses, und auf dem Gipfeltreffen in Vilnius im Juli 2023 verpflichteten sich die NATO-Staaten unter anderem dazu, „die Interoperabilität durch die transparente Einhaltung der NATO-Standards zu verbessern“. Die Frage, wie die Einhaltung von Standards zu tatsächlicher Austauschbarkeit weiterentwickelt werden kann, ist das Thema eines kürzlich auf der NATO-Website veröffentlichten Artikels der NATO Review mit dem Titel „Turning standard ammunition into sharable ammunition“.

Die Autoren des Artikels, Generalleutnant L. Landrum, ehemaliger US-Luftwaffenoffizier, Oberst Joel P. Gleason, US-A, G5-Direktor, US-V-Korps, und Oberst G. Corrado, ITA-A, beleuchten die ihrer Ansicht nach bestehenden Hindernisse für die Austauschbarkeit sowie mögliche Lösungen im Zusammenhang mit den multinationalen Gefechtsverbänden der NATO, für die die Möglichkeit der gemeinsamen Nutzung von Munition von besonderer, ja lebenswichtiger Bedeutung ist.

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Die Ergebnisse des Artikels beruhen auf einer Umfrage, die das NATO-Normungsbüro und ein Team des U.S. Army War College im Februar und März 2023 in drei der acht multinationalen Gefechtsverbände der NATO durchgeführt haben. Das wichtigste Ergebnis der Umfrage ist, dass das Haupthindernis für die Austauschbarkeit von Munition, sei es bei gemeinsamen Ausbildungsmaßnahmen in Friedenszeiten oder bei Operationen, eher verfahrenstechnischer als technischer Natur ist.

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Problemursachen

Die Rüstungshersteller in der NATO und in den verbündeten Staaten produzieren Munition und Waffensysteme unter Bezugnahme auf eine Reihe von NATO-Normen, die zumindest im Prinzip die technische Austauschbarkeit gewährleisten sollen. Ungeachtet der Tatsache, dass die meisten NATO-Staaten diese Normen ratifiziert haben und damit die technische Seite der Austauschbarkeit erleichtern, werden jedoch durch die nationale Politik und das nationale Beschaffungswesen häufig Hindernisse für den praktischen Austausch und die gemeinsame Nutzung von Munition aufgebaut. Selbst wenn beispielsweise ein 120-mm-Panzergeschoss nach STANAG 4385 „120 mm x 570 Munition für Panzerkanonen mit glattem Lauf“ hergestellt und getestet wurde und die Kampfpanzer eines Landes mit einer Kanone ausgestattet sind, die für diese Munition ausgelegt ist, verlangt die nationale Politik häufig ein langwieriges und ressourcenintensives Qualifizierungsverfahren, bevor die Munition verwendet werden kann. Das Gleiche gilt z.B. für Artilleriemunition und insbesondere für Munition, die von Flugzeugen mitgeführt und eingesetzt werden soll, da die nationalen Anforderungen an die Lufttüchtigkeit oft besonders streng sind. Abgesehen von den technischen Merkmalen der Munition selbst können Unterschiede zwischen den Nationen in Bezug auf Transport- und Lagerungsvorschriften den Austausch von Munition weiter erschweren.

Ein weiteres festgestelltes Hindernis für die Austauschbarkeit besteht darin, dass selbst in Situationen, in denen die oben genannten verfahrenstechnischen Hindernisse tatsächlich nicht bestehen oder ausgeräumt sind, auf taktischer Ebene häufig die Auffassung herrscht, dass Munition nicht „einfach“ ausgetauscht werden kann. Mit anderen Worten: Die Soldaten auf der taktischen Ebene scheuen sich davor, Munition mit ihren NATO-Partnern auszutauschen, weil sie glauben, dass sie damit gegen nationale Verfahren verstoßen, auch wenn dies nicht der Fall ist.

Umgekehrt hat die oben erwähnte Umfrage auch gezeigt, dass auf operativer Ebene die Auffassung vorherrscht, dass im Falle tatsächlicher Kriegseinsätze die tatsächlichen oder eingebildeten Beschränkungen des Munitionsaustauschs hinfällig würden. Eine Auffassung, die in fast allen Fällen falsch ist.

Lösungsvorschläge

In dem genannten Artikel wird eine Reihe von Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation vorgeschlagen: Erstens schlagen die Autoren vor, dass es jetzt an der Zeit ist, Fortschritte bei der Standardisierung und der Austauschbarkeit zu erzielen, da die Länder ihre Abgaben an die Ukraine erhöhen, bereits gelieferte Ausrüstung und Munition ersetzen und gleichzeitig ihre eigenen Bestände aufstocken wollen. Es ist wesentlich einfacher, die Anforderungen an die Austauschbarkeit und Standardisierung von Anfang an bei der Beschaffung neuer Ausrüstung zu berücksichtigen, als dies „nachträglich“ zu tun.

Zweitens sollte der tatsächliche Austausch von Munition fester Bestandteil gemeinsamer NATO-Übungen sein, damit die NATO-Verbände die praktischen Aspekte der Austauschbarkeit von Munition üben und sich mit ihnen vertraut machen können und damit sich die Befehlskette an diese Praxis gewöhnen kann. Die Erfahrungen aus solchen Übungen werden es der NATO und den Staaten auch ermöglichen, etwaige Lücken in den derzeitigen Standardisierungsvereinbarungen und Austauschverfahren zu ermitteln.

Auf der Industrie- und Produktionsseite ermutigt der Krieg in der Ukraine und der damit verbundene drastische Anstieg des Munitionsbedarfs die Rüstungsindustrie, ihre Aktivitäten auszuweiten und zu verstärken. Auch hier ist es wichtig, dass die Industriepartner der NATO-Staaten dabei die Austauschbarkeit und Standardisierung im Auge behalten.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass sich die Staaten an einigen der gemeinsamen Beschaffungsinitiativen beteiligen, die derzeit in der NATO aktiv sind, entweder über die NATO Support and Procurement Agency oder über eine der Smart Defence Battle Decisive Munitions Groups. Die gemeinsame Beschaffung ein und desselben Systems oder derselben Munition durch eine Gruppe von Staaten wird wesentlich dazu beitragen, die technischen und rechtlichen Hindernisse für die Austauschbarkeit von Munition abzubauen, seien sie nun real oder eingebildet.

Längerfristig könnten diese Initiativen auch zur Schaffung gemeinsamer Munitionsbestände führen, die standardisiert und austauschbar sind. Darüber hinaus könnte diese Form der gemeinsamen Bevorratung auch die Lebenszykluskosten für jede teilnehmende Nation senken, was die Kosten für Lagerung, Überwachung und Wartung angeht.

Und nicht zuletzt sollten die einzelnen Nationen, wie oben bereits angedeutet, ermutigt werden, ihre eigenen Richtlinien und Verfahren für die Annahme von Munition zur Verwendung durch ihre Streitkräfte zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, um die Standardisierung und Austauschbarkeit von Munition zu ermöglichen und zu fördern. Dazu gehören auch Strategien und Verfahren für die Freigabe und den Austausch von Daten und Informationen über Munition, um eine schnellere und detailliertere Feststellung der Austauschbarkeit zu ermöglichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die NATO und die Staaten auf technischer und politischer Ebene zusammenarbeiten müssen, um „Standardmunition“ in „austauschbare Munition“ umzuwandeln, um die Überschrift des genannten Artikels aufzugreifen.

Thomas Nielsen