Seit die transatlantischen Beziehungen im Wochentakt abzubröckeln scheinen, gibt es diverse Überlegungen, wie bei einem amerikanischen Rückzug aus der NATO Europa und insbesondere Deutschland die entstehenden Fähigkeitslücken kompensieren müssten. Noch will niemand einen vollständigen Austritt der USA annehmen, vor den auch der US-Kongress seine eigene Zustimmung gesetzt hat. Zudem dienen die amerikanische Führungsrolle im Bündnis und die auf diesem beruhenden Stützpunkte in Europa auch eigene Interessen.

Zugleich will sich jedoch niemand mehr darauf verlassen, dass dies in einem Jahrzehnt auch noch gilt – oder dass die USA bei einem möglichen russischen Angriff in fünf Jahren im bisher erwarteten Umfang Bündnishilfe leisten. Unser Schwestermagazin Hardthöhenkurier wird sich in nächster Zeit auf seiner Website in loser Folge mit verschiedenen Aspekten dieser Problematik befassen. Voraussichtlich immer Samstags geht es dann um Fähigkeitslücken im Falle eines amerikanischen Rückzugs, und wie Deutschland und Europa diese schließen könnten beziehungsweise müssten.
NATO-Anforderungen mit und ohne USA
Bereits erschienen ist eine Eingangsbetrachtung über Personalumfänge allgemein und den Bedarf an Bodenkampfverbänden im Besonderen. Schon vor den aktuellen Entwicklungen gab es im letzten Jahr Berichte über eine Erhöhung der NATO Minimum Capability Requirements für das Bündnis. Unter anderem soll es künftig 131 statt bisher geplanten 82 Kampftruppen-Brigaden, 38 statt 24 Divisions- und 15 statt sechs Korpskommandos geben. Nach denselben Berichten gingen Planer bereits damals davon aus, dass die Bundeswehr fünf bis sechs Kampftruppenbrigaden zusätzlich zu den bislang vorgesehenen neun – einschließlich der Deutsch-Französischen und der künftigen Panzerbrigade 45 in Litauen – stellen müsse.
Fielen die gegenwärtig in Europa stationierten US-Truppen und mögliche Verstärkungen weg, könnte sich die Gesamtzahl der deutschen Brigaden sogar auf 18 verdoppeln. Da die deutschen Streitkräfte aufgrund der mittlerweile sehr tiefen Integration stets zusammen mit den niederländischen gedacht werden müssen, kämen ausgehend vom jetzigen Stand von drei voraussichtlich sechs Brigaden der Niederlande hinzu. Gemeinsam mit den Partnernationen wäre dies ein Gesamtumfang von 24. Bei Fortschreibung der jetzigen Struktur entspräche dies sechs bis acht Divisionen in zwei Korps.
Personalumfang mindestens 340.000
Noch nicht eingeschlossen wäre möglicherweise eine vollständig ausgebaute binationale Marineinfanteriebrigade, da auch zwischen dem niederländischen Korps Mariniers und dem deutschen Seebataillon bereits ein Integrationsverhältnis besteht. Insgesamt würden die deutsch-niederländischen Streitkräfte so etwa 19 Prozent der europäischen Landstreitkräfte stellen. Der erforderliche Personalumfang der Bundeswehr läge bei mindestens 340.000 – den Ausbau anderer Teilstreitkräfte noch nicht eingerechnet.
In weiteren Beiträgen wird der Hardthöhenkurier einzelne Themenfelder zu Fähigkeiten, Umfängen, Organisation und Ausrüstung beleuchten, von einer möglichen Wiedereinführung der Wehrpflicht bis zu Nuklearwaffen. Soldat & Technik wird gelegentlich auf für unsere Leserschaft besonders interessante Themen hinweisen.
Stefan Axel Boes