Mit der Operation „Spinnennetz“ ist dem ukrainischen Geheimdienst SBU am vergangenen Sonntag, 1. Juni, ein schwerer Schlag gegen die strategische Bomberflotte Russlands gelungen. Nach eigenen Angaben wurden dabei 117 Drohnen vom Quadcopter-Typ gegen die vier Luftwaffenstützpunkte Belaja (Oblast Irkutsk, Sibirien), Djagilewo (Rjasa, südöstlich von Moskau), Iwanowo-Sewerny, (Iwanowo, nordöstlich von Moskau), und Olenja (Murmansk, Halbinsel Kola) eingesetzt, nachdem sie versteckt im Dach kleiner Holzhäuser mit kommerziellen Lkws nichtsahnender Speditionen in deren Nähe transportiert worden waren.
Ein fünfter Angriff auf den Stützpunkt Ukrainka im Oblast Amur (russischer Ferner Osten) scheiterte, als das Transportfahrzeug explodierte, vermutlich bei der pyrotechnischen Absprengung des Dachs zur Freisetzung der Drohnen. Die Steuerung erfolgte nicht vor Ort, sondern entweder über Satellit oder das russische Mobiltelefonnetz mit einer Open-Source-Software, die auch autonome Flüge in GPS-gestörter Umgebung erlaubt. Möglicherweise kam zudem KI-Bilderkennung für den Zielanflug zum Einsatz. Der SBU sprach von mehr als 40 getroffenen Bombern der Typen Tupolew Tu-22M, Tu-95 und Tu-160 sowie einem Radar-Frühwarnflugzeug Berijew A-50.
Spinnennetz wurde über 18 Monate gewebt
Die unabhängige Auswertung der veröffentlichten Drohnenbilder sowie kommerzieller Satellitenaufnahmen ergab bislang bis zu zwölf zerstörte oder beschädigte Bomber in Belaja und Olenja sowie möglicherweise eine A-50 in Djagilewo und ein Transportflugzeug vom Typ Antonow An-12. In Iwanowo wurden keine Schäden festgestellt. Die Planung der Operation mit Schmuggel der Komponenten nach Russland, Zusammenbau und Transport dauerte nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj 18 Monate und neun Tage bis zur Ausführung.
Bereits am Vortag kam es auch zu Anschlägen auf zwei Brücken in den an die Ukraine grenzenden russischen Oblasten Brjansk und Kursk. In einem Fall stürzte dabei eine Straßenbrücke auf einen passierenden Passagierzug, im anderem ein Güterzug auf eine Straße. Am gestrigen Dienstag erfolgte zudem ein Unterwasserangriff auf die Krim-Brücke über die Straße von Kertsch. Laut SBU hatten seine Agenten einen Pfeiler über Monate hinweg mit 1.100 Kilogramm Sprengstoff vermint.
Auch geringere Auswirkungen schmerzhaft für Russland
Videoaufnahmen sprechen jedoch für eine erheblich kleinere Explosion an einem der Schutzpiers vor dem Pfeiler, möglicherweise durch eine Unterwasserdrohne. Die Brücke wurde nach mehrstündiger Untersuchung wieder für den Verkehr freigegeben, was für keine oder geringe Schäden spricht. Auch wenn die physischen Auswirkungen also hinter den ukrainischen Angaben zurückbleiben, ist insbesondere der Verlust an Flugzeugen – und hier speziell einer A-50, von denen bereits zwei im laufenden Krieg verloren gegangen und nun möglicherweise nur doch drei einsatzbereit sind – für Russland schmerzhaft.
Größer dürfte wie schon bei der mittlerweile gescheiterten ukrainischen Kursk-Offensive der politisch-psychologische Effekt sein. Die Ukraine hat erneut gezeigt, dass sie trotz Personal- und Materialmangels weiter zu überraschenden Schlägen gegen russisches Gebiet fähig ist, selbst tausende Kilometer von der Front entfernt. Und das offenbar ohne direkte westliche Unterstützung, da die Operationen im Prinzip mit kommerziell verfügbaren Aufklärungs- und Wirkmitteln durchgeführt werden konnten. Angeblich wurden die westlichen Unterstützer wie schon bei der Kursk-Offensive auch vorab nicht informiert.
Neue Warnungen vor nuklearer Eskalation
Dort hätte es höchstwahrscheinlich große Bedenken hinsichtlich der wahrscheinlichen russischen Reaktion gegeben. Zwar hatte die Ukraine schon im ersten Kriegsjahr einen Drohnenangriff auf den russischen Bomberstützpunkt Engels (Oblast Saratow nahe der kasachischen Grenze) durchgeführt. Schon bei den Schlägen gegen Raketen-Frühwarnradars im letzten Jahr gab es allerdings Sorgen, dass Angriffe gegen die russische nukleare Frühwarn- und Abschreckungsstruktur zu Gegenschlägen gemäß der russischen Nuklearwaffendoktrin führen könnten.
Wladimir Putins Regierung hat die Drohung mit einer nuklearen Eskalation des Ukrainekriegs von Anfang an genutzt, um die westlichen Unterstützer der Ukraine abzuschrecken. Auch jetzt warnten pro-russische Propagandaquellen in Ost und West umgehend wieder vor solchen Folgen. Für die Ukraine stellt die russische Bomberflotte allerdings zunächst ein gegnerisches Mittel für konventionelle Langstreckenangriffe dar, mit dem regelmäßig Marschflugkörper auf ukrainische Ziele abgefeuert werden. Da das eigene Arsenal an Flugabwehrraketen in diesem Abnutzungskrieg zunehmend schwindet, ist das Ausschalten der Trägerflugzeuge die klar bessere Lösung.
Weiter zähe Kämpfe am Boden
Mit einer deutlichen russischen Reaktion ist auf jeden Fall zu rechnen. Sofern verfügbar, könnte Russland etwa erneut eine oder mehrere Mittelstreckenraketen vom Typ Oreschnik gegen die Ukraine einsetzen, was bislang trotz deren Hochstylisierung zur unaufhaltbaren Wunderwaffe seit der ersten Demonstration gegen die Stadt Dnipro im letzten November nicht geschehen ist. Bislang haben die ukrainischen Schläge jedoch weder Auswirkungen auf das Frontgeschehen noch die Verhandlungen zwischen beiden Seiten in Istanbul gehabt.
Entlang der Frontlinie setzen sich vielmehr die zähen Kämpfe mit geringen Gebietsänderungen fort. Bei Tjotkino in der Oblast Kursk versuchen ukrainische Kräfte weiter, auf russisches Gebiet vorzustoßen. Etwas weiter südlich hat Russland nach eigenen Angaben das Dorf Andrijiwka in der ukrainischen Oblast Sumy eingenommen. Im weiteren Verlauf der Grenze hält die Ukraine weiterhin einen schmalen Streifen russischen Gebiets. Keine entscheidenden Änderungen gibt es auch in der Oblast Donezk, wo Russland seit fast einem Jahr die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk einzunehmen versucht.
Wenig Fortschritt in Istanbul
In Istanbul fand am Montag die geplante nächste Gesprächsrunde zwischen Delegationen beider Seiten statt. Diese dauerte nur kurz, führte aber zur Vereinbarung eines weiteren Gefangenenaustauschs von 1.200 Soldaten jeder Seite, insbesondere Verwundete, Kranke und unter 25-jährige. Auch jeweils 6.000 Gefallene sollen ausgetauscht werden. Weiteres Thema war die Rückführung von aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland deportierten Kindern. In dieser Frage gibt es jedoch ebenso wie beim Hauptpunkt eines Waffenstillstands noch keine großen Fortschritte.
Die Ukraine fordert weiterhin einen bedingungslosen 30-tägigen Waffenstillstand. Russland verlangt dagegen weiter den völligen Abzug ukrainischer Truppen aus den vier von ihm annektierten, aber nicht vollständig besetzten Oblasten, einen Stopp von Rekrutierungen und Waffenlieferungen an die Ukraine während des Waffenstillstands, sowie einen Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, Neuwahlen und die Umsetzung seiner Forderungen nach diversen Gesetzesänderungen. Im Prinzip entspricht dies seinen erklärten Kriegszielen noch vor dem Eintritt in eigentliche Friedensverhandlungen, was einen vorherigen Waffenstillstand sinnlos macht.
Stefan Axel Boes