StartStreitkräfteErklärstück: Keine Bundeswehr-Marder für die Ukraine?

Erklärstück: Keine Bundeswehr-Marder für die Ukraine?

Waldemar Geiger

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Der Krieg in der Ukraine führt auf beiden Seiten zu erheblichen Personal- und Materialverlusten. Während die russischen Streitkräfte über Reserven verfügen, hat die Ukraine seit dem ersten Kriegstag vermutlich alles an Kräften und Mitteln eingesetzt, was vorhanden war. Eine ukrainische Generalmobilmachung führte zwar dazu, dass die Personalstärke der ukrainischen Streitkräfte angehoben werden konnte, materielle Steigerungen sind aber ausschließlich über Lieferungen aus dem Ausland realisierbar.

Verständlich daher, dass die Ukraine den Westen um Unterstützung bittet. Der Westen ist dazu auch bereit und liefert. In der Beurteilung, ob bzw. inwiefern die mittlerweile gewährte Unterstützung ausreichend ist, ist insbesondere das deutsche Engagement im In- und Ausland in Kritik geraten. Die Gründe dafür sind primär in der mangelhaften Kommunikation der deutschen Regierungsbeteiligten auf der einen Seite und fehlendem Fachwissen – auch mit Blick auf die Tragweite einzelner Entscheidungen – auf Seiten vieler Kritiker zu suchen. Dies lässt sich anhand zweier Beispiele, der Lieferung von sowjetischen Flugabwehrsystemen des Typs S-300 durch die Slowakei sowie der ausgeschlagenen Bitte nach Lieferung von Schützenpanzern des Typs Marder, belegen.

Causa Luftverteidigungssystem S-300

Die slowakische Regierung hat bereits vor geraumer Zeit entschieden, Flugabwehrsysteme des Typ S-300 an die Ukraine liefern zu wollen und vor wenigen Tage eine Feuereinheit übergeben. Verständlich daher, dass dieses Engagement mit Lob versehen wird und größere Länder aufgefordert werden, es der Slowakei gleichzutun. Schließlich könne es ja nicht sein, dass ein kleines Land etwas tut und große Länder (bezogen auf die Wirtschaftsstärke) quasi tatenlos daneben stehen.

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Die Realität sieht anders aus, wenn man sich den kompletten Entscheidungsprozess ansieht, der hinter der slowakischen Lieferung steckt. Denn der Lieferung einer Feuereinheit S-300 an die Ukraine ist eine Zusage Deutschlands, der Niederlande und der USA vorausgegangen, dass man die Luftverteidigung der Slowakei mit eigenen Luftverteidigungssystemen des Typs Patriot ausgleichen werde. Die ersten dafür notwendigen Soldaten wurden bereits vor Wochen in Marsch gesetzt. Die slowakische Lieferung wäre somit ohne das Engagement der weiteren NATO-Staaten überhaupt nicht möglich. Ein Zusammenhang, der von der Weltöffentlichkeit und insbesondere von den Kritikern des deutschen Handelns so nicht gesehen oder mit Absicht ignoriert wird.

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Man kann nun natürlich die Forderung aufstellen, der Ukraine doch gleich mit Patriot-Systemen auszuhelfen, da diese als leistungsstärker als die S-300 anzusehen sind. Diese Forderung berücksichtigt dann aber nicht den Faktor Zeit. Luftverteidigungssysteme, speziell solche, die von hunderten Soldaten bedient werden müssen, um einsatzfähig zu sein, sind hochkomplex. Daher der Entschluss der NATO, der Ukraine Systeme sowjetischer Bauart zu liefern, die schneller – und hier spricht man von einigen Wochen – ins Feld geführt werden können als Systeme, die erst nach mehreren Monaten einsatzfähig wären.

Berechtigt ist natürlich auch die Frage, was man machen will, wenn die S-300 nicht ausreichen – egal ob qualitativ oder quantitativ. Sollte dieser Fall tatsächlich eintreten und die NATO-Staaten den Entschluss treffen, dass eine Patriot-Lieferung angebracht wäre, müsste man bereits heute mit ersten Maßnahmen beginnen. Es wäre dann angeraten, heute schon ukrainische Flugabwehrspezialisten an die westlichen Ausbildungseinrichtungen zu bringen und mit der Ausbildung dieser Kräfte zu beginnen.

Causa Schützenpanzer Marder

Eine ähnliche und doch andere Logik ist in der Entscheidung der Bundesregierung zu suchen, keine Schützenpanzer Marder aus dem Bestand der Bundeswehr an die Ukraine zu liefern, obwohl die Bundeswehr über mehrere hundert dieser Systeme verfügt.

Kritiker dieser Entscheidung blenden einen großen Teil der Komplexität dieser Maßnahme aus und sowohl der Bundesregierung im Allgemeinen, als auch dem Verteidigungsministerium im Speziellen, gelingt es nicht, den Gedankengang hinter der Entscheidung verständlich zu vermitteln. Die Gründe dafür liegen wohl darin, dass man spätestens dann eingestehen müsste, wie es tatsächlich um die quantitative Einsatzfähigkeit der Bundeswehr steht und welchen Anteil der jetzige Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner vorhergehenden Funktion als Finanzminister an diesem Umstand hat.

Den Zustand der Bundeswehr kann man kritisieren und sollte diesen schnellstmöglich verbessern. Die Entscheidung, keine Marder liefern zu wollen, darf man aber erst kritisieren, wenn einem der Preis bewusst ist, den diese Entscheidung mit sich bringt. Und dieser ist hoch, viel höher als sich manch Kritiker bewusst ist. Denn im Endeffekt würde eine Lieferung der Schützenpanzer Marder bedeuten, dass die Bundeswehr für die nächsten Jahre – insbesondere dann, wenn der Krieg noch länger dauern sollte – einen großen Teil der heeresspezifischen Zusagen an die NATO wieder absagen müsste.

Es sei in diesem Zusammenhang an die Aussage des Inspekteurs Heer erinnert, welcher am ersten Kriegstag öffentlich erklärt hat, dass das Heer abseits der bereits laufenden Engagements „blank“ sei. Denkt man diese Aussage logisch weiter, bedeutet dies nicht nur, dass das Heer keine weiteren Mittel und Kräfte hat, um zusätzliche Engagements der NATO zu übernehmen, sondern es wäre unter Umständen sogar erforderlich, laufende Verpflichtungen abzusagen.

Plakativ gesagt: Wenn man nicht in der Lage ist, der NATO eine zusätzliche Panzergrenadierkompanie, bestehend aus 14 Schützenpanzern, anzubieten, wie soll man dann der Ukraine 100 Schützenpanzer abgeben? Insbesondere dann, wenn man bedenkt, dass es ja nicht nur 100 Schützenpanzer wären, sondern entsprechende Ersatzteil- und Munitionspakete für Wochen und Monate Kriegseinsatz, der deutlich verschleißintensiver ist, als ein eFP-Einsatz im Baltikum oder ein Übungsplatzaufenthalt. Denn dort werden die Systeme unter vergleichsweise verschleißarmen Friedensbedingungen durch erfahrene Kraftfahrer und Kommandanten eingesetzt und nicht durch hastig umgeschultes Personal, das die Panzer im Krieg quasi permanent auf Volllast fährt. Aber selbst eine Woche Übungsplatz führt dazu, dass die in die Jahre gekommenen Panzer anschließend einer intensiven Wartung unterzogen werden müssen. Glaubt also tatsächlich jemand, dass Deutschland sich die Blöße gegeben hätte, für die neue Battlegroup in der Slowakei eine Jägerkompanie anzumelden, anstatt gleich ein Panzergrenadierbataillon? Wenn die Bundeswehr dazu durchhaltefähig in der Lage wäre, dann hätte man dies sicherlich getan.

Nun werden bestimmt Stimmen laut, dass man die Bundeswehrpanzer ja abgeben und diese dann in wenigen Monaten durch eingemottete Lagerbestände der Industrie ersetzen könnte, die erst noch betriebsbereit gemacht werden müssten. Wer diese Meinung vertritt, dem sei ein Blick auf den tatsächlichen Zustand der Industrie-Marder angeraten. Mit wenigen Monaten ist es da gut unterrichteten Kreisen zufolge nicht getan. Diese Einschätzung bestätigen auch jüngste Presseberichte, wonach die Ukraine bis zum Ende des Jahres knapp 30 Schützenpanzer Marder direkt von Rheinmetall haben könnte, wenn die Bundesregierung einem Verkauf zustimmt. Man redet hier also nicht mehr über wenige Monate, sondern über eine Dreivierteljahr und das bei nur einem Drittel der ursprünglich kolportierten Menge.

Und selbst dann müssten die Marder im Kriegseinsatz versorgt werden, sprich eine permanente Ersatzteil- und Munitionslieferung durch die Industrie wäre erforderlich. Dies müsste geschehen, während gleichzeitig die Engpassbestände der Bundeswehr aufzufüllen sind.

Betrachtet man diese Zeitlinien, versteht man auch, welchen Einfluss eine Abgabe von Bundeswehr-Mardern an die Ukraine für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr hätte. Im Grunde wäre der Preis, dass die deutschen Landstreitkräfte quasi für längere Zeit nur noch über ein einziges einsatzfähiges Panzergrenadierbataillon, ausgerüstet mit dem VJTF-Puma, verfügen würden. Und dieses wäre dann auch noch bis Ende 2024 im NRF-Auftrag gebunden. Die komplette übrige Grenadiertruppe hätte dann nur noch vereinzelte Los-1- Pumas – die über keine Einsatzreife verfügen – oder gar kein Gefechtsfahrzeug für Übung und Einsatz. Denn die restlichen Pumas sind zur Kampfwertsteigerung auf den Rüststand S1 in der Industrie und die verbleibenden Marder kaum einsatz- und versorgungsfähig, weil die Bundeswehr aus ihren Beständen heraus dauerhaft die 100 Schützenpanzer in der Ukraine versorgen müsste. Ein Umstand, der die Bundeswehr bereits heute im Friedensbetrieb teilweise an die Grenzen bringt.

Es wäre auch ratsam, die Zusagen der Industrie kritisch zu hinterfragen, dass man die Bundeswehr-Marder ja durch modernisierte Industriebestände auffüllen könnte. Wahrscheinlicher ist, dass man auch da alle Hände damit zu tun hätte, Ersatzteile etc. für die Marder in der Ukraine zu liefern. Schließlich ist es ja nicht damit getan, der Ukraine 100 Schützenpanzer zu liefern und die ukrainischen Soldaten in der Systembedienung und Instandhaltung auszubilden. Man müsste diese auch tagtäglich im Krieg versorgen und dies mit den gleichen unzureichenden Ressourcen, die bereits heute an die Grenzen kommen, 100 dieser Systeme für einen täglichen Einsatz- und Übungsbetrieb einsatzfähig zu halten.

Denkt man diesen Prozess also  zu Ende, würde die Abgabe der 100 Bundeswehr-Marder dazu führen, dass im schlimmste anzunehmenden Fall – der Krieg dauert länger und Industriekapazitäten wären mit der Ukraineunterstützung ausgelastet – praktisch die gesamten deutschen gepanzerten Kampftruppen – deren Leistungsfähigkeit sich aus einem kombinierten Einsatz von Kampf- und Schützenpanzern speist – für eine unbestimmte Zeit nicht einsatzfähig wäre. Diese Fähigkeiten wären dann weder für die NATO, noch den Übungsbetrieb und den damit verbundenen Fähigkeitserhalt der Landstreitkräfte verfügbar.

Ähnlich wie die Forderung nach dem Durchsetzen einer Flugverbotszone über die Ukraine oder nach einem sofortigem Stopp russischer Gaslieferungen, stellt sich also auch die Marderlieferung als nicht so einfach dar, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Der mit der Entscheidung verbundene Rattenschwanz ist erst auf den zweiten oder dritten Blick sichtbar. Wenn also der Inspekteur des Heeres sagt, dass das Heer „blank“ sei, sollte man dies glauben, er hat dies sicherlich nicht leichtfertig gesagt. Und im Gegensatz zu vielen anderen Stimmen, die sich in dieser Thematik öffentlich äußern, verfügt er über einen qualifizierten Einblick über den Zustand seiner Waffensysteme und der damit verbundenen Logistik.

Fazit

Die deutschen Streitkräfte wurden über Jahre hinweg vernachlässigt und mit unzureichenden Mitteln ausgestattet. Mangelwirtschaft war an der Tagesordnung. Dies war öffentlich bekannt und wurde trotzdem über alle Parteien hinweg und auch von der breiten Öffentlichkeit mitgetragen. Diesem Umstand hat sich auch die nachgelagerte Rüstungsindustrie angepasst und Kapazitäten abgebaut und Investitionen zurückgeschraubt. Nun ist die komplette Kette nicht mehr in der Lage, schnell und ausreichend reagieren zu können. Weder die Fähigkeiten der Streitkräfte noch die Industriekapazitäten können von heute auf morgen aufgebaut werden. Es gilt schließlich immer noch Friedens- und nicht Kriegswirtschaft in Verbindung mit einem Fachkräftemangel.

In dieser Lage kann man (die Bundesregierung in Verbindung mit den NATO-Partnern) dann immer noch politisch zu dem Schluss kommen, dass man die Ukraine mit Engpasssystemen aus Bundeswehrbeständen unterstützen möchte. Man muss sich dann aber bewusst sein, wie hoch der zu zahlende Preis ist. Im Fall der Marder bedeutet er unter Umständen den Verzicht auf die kurz- und mittelfristige Einsatzfähigkeit des deutschen Heeres.

Parallel zu der Entscheidungsfindung wäre es jedoch notwendig, an der Außenkommunikation und der Vermittlung solch komplexer Sachverhalte zu arbeiten. Denn auch beim militärischen Fachwissen in der breiten Öffentlichkeit wurde in den letzten Jahrzehnten massiv „abgerüstet“.

Waldemar Geiger